© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/97  18. Juli 1997

 
 
Der Westen ist schuld - oder der Neoliberalismus
Ehrlichkeit bitte!
Meinungsbeitrag
von Rüdiger Stix

Ein Gespenst geht um -", so kommentierte ein Waffenstudent aus Trier den sogenannten Kapitalismus vor knapp 150 Jahren. Sein Name: Karl Marx. Seine Analyse: blendend, geistreich, wenn auch unvollständig. Seine Prognosen: voll daneben. Selbst wenn wir die Frage offen lassen, ob Karl Marx selbst überhaupt "Marxist" war. Seine Analysen krankten auch an einer grundlegenden Einseitigkeit. Sie wägen nicht die Alternativen zur berechtigten Kapitalismuskritik ab. Denn unbestreitbar waren die Arbeitsbedingungen der englischen Kohle- und Industriearbeiter im 19. Jahrhundert erbärmlich. Genauso, wie die ihrer knapp später folgenden Kollegen in Europa und USA. Erbärmlich im Vergleich zu heute. Aber was war die real existierende Alternative? Indien? China? Zweifellos waren Indien und China über Jahrhunderte hinweg Hochkulturen, die etwa dem mittelalterlichen Europa zivilisatorisch oft überlegen waren. Auch noch zu Maria Theresias Zeiten waren die Lebensbedingungen zum Beispiel eines Webers in Indien mit denen eines in Schlesien und England zumindest noch vergleichbar. Im 19. Jahrhundert jedoch, nach dem Einsetzen der Industriellen Revolution, verharrten Indien und China in der feudalen Struktur einer Agrargesellschaft. Während die "kapitalistischen" Mächte Europas und der USA sich die Welt aufteilten, und für ihre eigene Bevölkerung Schulen, Trinkwasserleitungen, Spitäler, Bahnhöfe und elektrische Leitungen zur Verfügung stellen konnten.
Wie wir wissen, wurde und dabei nichts geschenkt. Die feudalen Strukturen, welche die Gesellschaften Chinas oder Indiens hemmten, die hätten wir auch. Vielleicht nicht ganz so zentralistisch und nicht so komplett durchgeschaltet wie in einer echten Despotie.

Aber auch bei uns wurde die Leibeigenschaft erst vor knapp 150 Jahren beseitigt. Nicht freiwillig, sondern revolutionär. So war die Abschaffung der Leibeigenschaft im Habsburger-Österreich der erste nachhaltige Erfolg der national-liberalen Revolution von 1848. Der Kampf des nationalliberalen Bürgertums, voran burschenschaftlich orientierte Studenten, gegen den Feudalismus und Absolutismus von Thron und Altar gehört nicht zuletzt zu den edelsten Traditionen des freiheitlichen Lagers in Österreich. Zur Symbolfigur wurde diesbezüglich der Bauernbefreier Hans Kudlich, auf dessen Antrag die bäuerliche Untertänigkeit abgeschafft wurde. Freie bäuerliche Unternehmer, freie bürgerliche und gewerbliche Hanwerksbetriebe, Klein- und Mittelindustrielle und auch Großindustrien wurden erst durch die Abschaffung des Feudalismus ermöglicht.
Nun wissen wir, daß dieser Weg zur freien Marktwirtschaft und zum Kapitalismus mit vielen negativen Nebenerscheinungen gerade im Hinblick auf den sogenannten Manchester-Liberalismus muß man das sagen verbunden war. Dennoch hat diese Marktwirtschaft im Zuge des letzten Jahrhunderts ihre Entwicklung eine Reihe von Regulativen entwickelt. Schlagworte wie "Soziale Marktwirtschaft" oder "Ökosoziale Marktwirtschaft" oder neuerdings im Entwurf zum freiheitlichen Parteiprogramm "Faire Marktwirtschaft" signalisieren diese Versuche gemeinschaftsorientierte, soziale Regulative gegenüber den Kräften des Marktes einzuführen. Und damit hat sich die freie Marktwirtschaft, entgegen den Prophezeihungen von Karl Marx, als überlebensfähiges, elastisches System erwiesen.

Ähnliche Gespenster wie Karl Marx sehen seine heutigen Nachfolger: Bestimmte WIFO-Experten bis hin zu Finanzstadträtin Mag. Brigitte Ederer. Lassen wir auch dabei die Frage beiseite, was denn "Neoliberalismus" eigentlich ist _ oder verwechselt da jemand (Neo)Monetarismus mit "Liberalismus"?

Aber was, bitte, wird uns als Alternative angeboten? Der "geschlossene Handelsstaat" … la Albanien? Stellen wir uns einmal nur ganz kurz der Realität. Sehen wir uns zum Beispiel die unterschiedlichen Wirtschaftssysteme in den letzen Jahrzehnten an: Nach dem letzten Weltkrieg waren Europa und Japan Trümmerhaufen, Lateinamerika war immer noch reich. Die Pro-Kopf-Einkommen im Pazifik, etwa in Südkorea, und die in Schwarzafrika, etwa in Ghana, waren etwa gleich hoch. Nur, daß die afrikanischen Staaten in der Nachkolonisationsära mehr Bodenschätze besaßen als Japan und Korea. Die Strategien waren auch klar unterscheidbar: Nicht nur Deutschland und Japan erarbeiteten sich ihr Wirtschaftswunder als Exportmächte am Weltmarkt. Die lateinamerikanischen Länder machten lange das Gegenteil: Sie bauten riesige Staats(nahe)industrien auf, die sie hinter Schutzzöllen abdeckten. Mit dem klaren Ergebnis: Die Wettbewerbsfähigkeit sank kontinuierlich während gleichzeitig Korea vom Entwicklungsland zur Industriemacht wuchs.

Bleiben fairerweise noch zwei Ergänzungen. Seit die lateinamerikanischen Länder ihre Staatswirtschaft liberalisiert haben, schaffen sie ein Wachstum von sechs bis neun Prozent p.a. Und Österreich? Wir sollten als Nutznießer der sogenannten "Globalisierung" zugeben, daß kein neoliberaler Amikonzern irgendetwas dafür kann, daß wir die jüngsten Pensionisten, die ältesten Studenten, dafür die meisten Feiertage haben!

 
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