© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/97  18. Juli 1997

 
 
Als die Wende auf der Strecke blieb
von Georg Willig

Kenntnis und Charakter müssen zusammentreffen, wenn das ans Licht kommen soll, was viele lieber im Dunkeln ließen. Als Hans Apel, der SPD-Finanzminister von 1974 bis 1978, kürzlich sein neues Buch "Staat ohne Maß Finanzpolitik in der Sackgasse" vorstellte, da bekannte er freimütig, daß seinerzeit er und sein Nachfolger Hans Matthöfer den Grundstock zum heutigen Schuldengebirge gelegt hätten. Es gäbe daher keinen Grund zu der Behauptung, so mahnte er seine Genossen, "man wäre besser gewesen".

Alles anders und vor allem besser machen wollte es allerdings nach der Niederlage der SPD/FDP-Koalition die neue Regierung aus CDU/CSU und FDP, die am 6. März 1983 vom Wähler bestätigt wurde. Sie versprach sogar eine große Wende. Die aber blieb aus. Es reichte nur zu zaghaften und verspäteten Reformen.

Staatsverschuldung und langandauernde, hohe Arbeitslosigkeit hängen offensichtlich zum großen Teil mit leichtfertigen Kompromissen zwischen Parteien und Interessengruppen zusammen, die ihre jeweiligen Wähler ködern wollen. Diesen Mechanismus, der es schwer werden läßt, vernünftige Maßnahmen zu realisieren, beschreibt der große Denker des Liberalismus und Nobelpreisträger Friedrich von Hayek (1899 1992) in seinem Hauptwerk "Recht, Gerechtigkeit und Freiheit". Darin heißt es:

"Demokratie wird zunehmend der Name für den Prozeß des Stimmenkaufs, für das Schmieren und Belohnen jener Sonderinteressen, die in naiveren Zeiten als die 'unlauteren Absichten' bezeichnet wurden. Dafür verantwortlich ist nicht die Demokratie als solche, sondern die besondere Form der Demokratie, die wir heute praktizieren. Wenn die Macht einer allmächtigen demokratischen Regierung nicht begrenzt ist, kann sie sich einfach nicht darauf beschränken, den übereinstimmenden Meinungen der Mehrheit der Wählerschaft zu dienen. Sie ist gezwungen, eine Mehrheit dadurch zustande zu bringen und zusammenzuhalten, daß sie die Forderungen einer Vielheit von Sonderinteressen befriedigt, von denen jede den besonderen Wohltaten, die anderen Gruppen gewährt werden, nur zu dem Preis zustimmt, daß ihre eigenen Sonderinteressen gleichermaßen berücksichtigt werden. Eine derartige Schacherdemokratie hat nichts mit den Vorstellungen zu tun, die einmal das Prinzip der Demokratie rechtfertigen sollten." Soweit Hayek. Es kann nützlich sein, an die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik vor dem Regierungswechsel 1982 zu erinnern. Es gab Stimmen genug, die zur Umkehr mahnten. Aber die versäumte "Wende" und die zusätzlichen Belastungen des Staates nach der Wiedervereinigung haben den Ausweg aus der Krise nur noch schwieriger gemacht.

Nur wenige werden sich heute noch daran erinnern: Bereits Mitte 1977 wurde bei einem Stand von 1,03 Millionen vorausgesagt, daß der Gipfel der Arbeitslosigkeit noch bevorstehe. Das Kölner Institut für Wirtschaft rechnete damals für die Zeit von 1986 bis 1991 mit einer Quote von 11,3 Prozent und mit einer Arbeitslosigkeit bis ins Jahr 2000. Heute sind fast 4,3 Millionen Menschen ohne Arbeit: 9,6 Prozent in Westdeutschland und 17,2 Prozent in den neuen Bundesländern. Unsere heutigen Probleme sind also nicht vom Himmel gefallen; sie gehen auf langandauernde Fehlentwicklungen zurück.

Auch damals schon wurden die Stimmen immer lauter, die diese bedenkliche Entwicklung, die sich ja in einer steigenden Staatsverschuldung ausdrückte, auf das Versagen der Marktwirtschaft zurückführten. Dem widersprach deutlich der namhafte Wirtschaftspublizist Michael Jungblut. "Gewerkschaften, die ihre Lohnforderungen überziehen", schrieb er am 14. Oktober 1977 in der Zeit, "produzieren damit Arbeitslosigkeit, Politiker, die die Steuerschraube überdrehen, lösen damit schließlich Leistungsverweigerung, Kapitalflucht und Reaktionen aus, die das Wirtschaftswachstum gefährden. Wenn heute 83 Prozent der Arbeitslosen nicht zum Ortswechsel bereit sind, um eine neue Beschäftigung zu finden, dann kann selbst ein kräftiger Aufschwung nicht zur Vollbeschäftigung führen."

Die Kritiker der Marktwirtschaft hatten vergessen, daß ihre vielen als berechtigt erschienenen Forderungen auch eine andere Seite haben. Die deutsche Wirtschaft produzierte damals im Vergleich zu den größten westlichen Industrieländern mit den höchsten Arbeitskosten: Mit 18,92 DM lag die Bundesrepublik an der Spitze. In den USA waren es DM 17,76, in Frankreich 12,23, in Japan 10,57, in Großbritannien 8,06. Und auch hinsichtlich der Personalzusatzkosten standen wir mit 7,66 DM an der Spitze. Auch die Sozialkosten wurden immer drückender. Nach Angaben des Bundeswirtschaftsministers (April 1978) hatten sich die Sozialleistungen seit 1960 mehr als versechsfacht. Von 1975 bis 1977 nahmen sie um etwa 15 Prozent auf 379 Milliarden DM zu.
Aber diejenigen, die die Zeichen an der Wand nicht sahen oder nicht sehen wollten, drückten nur noch stärker auf den Gashebel in eine blaue Zukunft. Auf einem außerordentlichenParteitag der SPD in Köln im Dezember 1978 sagte Heidemarie Wieczorek-Zeul, daß das Europaprogramm der SPD nach einigen Änderungen nun "progressiver und vorbildlicher" geworden sei. Nun könne man "die Wurzeln des Marxismus erkennen". Die Forderung, in Europa "zusammen mit den Bruderparteien eine demokratische Wirtschaft zu verwirklichen", fand bei dem Kongreß großen Beifall: das Schwergewicht der Politik sollte sich von der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen auf "menschliche Ziele" verlagern.

Welche konkreten Wirkungen diese in den Parteien weitverbreiteten Vorstellungen auf die Kassen des Staates hatten, läßt ein Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Dezember 1981 erkennen: "Die Partei, die sich den Wünschen des öffentlichen Dienstes härter widersetzt, ist bisher noch nicht gefunden worden. Bei der dichten Verfilzung, die es zwischen den Parteien und der Beamtenschaft gibt, muß der Steuerzahler aber schon dankbar sein, daß die 'Arbeitgeber' in Bonn jetzt nicht noch nachgiebiger waren (betreffend Tarifabschluß nach Poststreik). Zu kritisieren sind aber weniger die gewerkschaftlichen Begehrlichkeiten als die langjährigen Verwöhnungen, die die Regierungen aller Couleur dem öffentlichen Dienst gewährt haben. Das Durchschnittseinkommen ist dort schon auf 3.700 Mark gestiegen; das sind etwa 1.000 Mark mehr als in der gesamten Wirtschaft. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Beamten um eine halbe Million erhöht. So kostet ein Prozent Tariferhöhung im öffentlichen Dienst heute schon 1,9 Milliarden Mark. Wo ist die Partei, die diesem Moloch Schranken setzt?"

So hatte denn auch die Bundesrepublik um diese Zeit schon den größten Verwaltungsapparat Europas. Wurden bei uns 27 Bürger von einem Beamten allgemeine Verwaltung ohne Gesundheit, Bildung, Post und Verkehr betreut, so kam man in der sparsamsten Verwaltung Europas, in Irland, mit einem Bediensteten für 50 Einwohner aus.

Die Folge war natürlich, daß der Staat nirgendwo mehr mit seinem Geld auskam. Die Ursache dafür war neben der starken Erhöhung der sozialen Leistungen vor allem der Versuch, das Wirtschaftswachstum durch staatliche Ausgabenprogramme anzuregen oder dahinsiechende Wirtschaftszweige durch Milliardensubventionen am Leben zu erhalten. "_Das verkrustete Gesundheitswesen oder die soziale Alterssicherung schreien geradezu nach den Reformen", meinte Michael Jungblut in der Zeit vom 30. Oktober 1981: "Das gleiche gilt für den aufgeblähten öffentlichen Dienst, für die völlig verfahrene Agrarpolitik oder das Subventionsunwesen. Wenn in allen diesen Bereichen nicht endlich über den Tag hinaus gedacht und gehandelt wird, dann muß das Ende dieses Jahrzehnts schrecklich werden. Dann werden die Haushaltskrisen dieser Monate später nur als ein harmloses Vorspiel erscheinen."

Es wurde nicht mehr zur Kenntnis genommen, daß man die Wirtschaftsordnung dadurch untergräbt, indem man ihre "Spielregeln" mißachtet. Anton Szöllösi machte dafür die Keynsianisch-etatistische šberbürdung der Volkswirtschaft mit Ansprüchen und Kosten verantwortlich. Die methodischen Vorzüge, schrieb er in der FAZ vom 6. Dezember 1981, "die überragende Leistungs- und Anpassungsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft kann nur dann zum Tragen kommen, wenn man die Wirtschaftsordnung nach den eigenen Gesetzen funktionieren läßt. Ihre Restauration und Fortentwicklung und ein Rückzug des Staates sowie der Verbandsmacht aus den ökonomischen Bereichen ist das Gebot der Stunde."

Tacheles redete dann Jürgen Eick am 11. Januar 1982 in der gleichen Zeitung. Er schrieb: "Wir drohen immer mehr, eine Nation von Sozialfürsorgeempfängern, Frühpensionären, Kranken, Halbkranken, Krankfeiernden und behandlungsbedürftigen Sucht-Kranken zu werden. Es gibt so viele, die nur darauf aus sind, Kasse zu Lasten der Gemeinschaft zu machen. Der nahezu vollständige 'Nulltarif' begünstigt die übertriebene Inanspruchnahme. In der Bundesrepublik fallen statistisch gesehen je Arbeitnehmer jährlich 25 Arbeitstage wegen Krankheit aus; in den USA nur 5 und in Japan nur 2,5 Tage. Jeder Gastarbeiter hat die Chance, sich vollständig 'durchreparieren' zu lassen. Die Bundesrepublik verbraucht 40 Prozent des gesamten Zahngoldes der Welt. Das ist 'unglaublich' im wahrsten Sinne des Wortes."

Ende Januar 1982 betrug die Zahl der Arbeitslosen 1,7 Millionen oder eine Quote von 7,3 Prozent. Der Staat hatte bei seinem fahrlässigen Versuch, "die Belastbarkeit der Wirtschaft zu erproben" des "Guten" zuviel getan. Jahrelang bestrafte eine Steuer-, Sozial- und Subventionspolitik die Leistung zugunsten der Ausbeuter der Gesellschaft. Noch deutlicher als andere Kritiker wurde Professor Wolfram Engels, als er von den "selbstmörderischen Absurditäten des Wohlfahrtsstaates" sprach. Wenn es uns nicht gelingt, schrieb er in der Welt vom 18. Januar 1982, "den Wohlfahrtsstaat an Haupt und Gliedern zu reformieren, dann wird er nicht nur den Bundeshaushalt ruinieren, dann wird er nicht nur die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit untergraben, sondern unter zunehmender Bürokratisierung zu Unregierbarkeit und Immobilismus führen."

Es gab also schon damals genug kompetente Stimmen, die davor warnten, die Karre nicht noch weiter in die gleiche Richtung laufen zu lassen. Aber alle diese Warnungen wurden nicht rechtzeitig ernst genommen. Das Notwendige wurde auch nach dem Regierungswechsel 1982 nicht getan, und die "Wende" blieb dabei auf der Strecke.


 
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