© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/97  11. Juli 1997

 
 
Volksgruppen: Peter Oprzondek über die Situation der deutschen Minderheit in Polen
"Die Muttersprache von Anfang an"
Interview mit Peter Oprzondek
Fragen: Gerhard Quast

Herr Oprzondek, die AGMO wurde 1980 als Ostdeutsche Menschenrechtsgesellschaft gegründet. Heute versteht sie sich als Hilfsorganisation zur Unterstützung der deutschen Volksgruppe jenseits der Oder und Neiße. Was hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten geändert?

Oprzondek: Die Zielsetzung von damals war, praktische Menschenrechtshilfe zu leisten. Wir wollten zuerst einmal sichtbar machen, daß jenseits von Oder und Neiße Deutsche leben. Das war vielen nicht so klar. Mittlerweile sind die Deutschen, die in diesen Gebieten leben, als Minderheit anerkannt worden, so daß sich unser Tätigkeitsbereich geändert hat. Derzeit konzentriert sich die AGMO e.V. auf die Unterstützung der Ortsgruppen des Deutschen Freundschaftskreises bei der Realisierung ihrer kulturellen und muttersprachlichen Rechte.

Wie sieht es denn überhaupt mit der Verwirklichung der Volksgruppenrechte aus?

Oprzondek: In der deutsch-polnischen Gemeinsamen Erklärung vom 14. November 1989 und im Nachbarschaftsvertrag vom 17. Juni 1991 sind einige Punkte enthalten, die den Eindruck erweckten, als seien hiermit die Menschenrechte beziehungsweise die Volksgruppenrechte für diese deutsche Volksgruppe voll verankert worden. Es heißt darin zum Beispiel, daß auch der Gebrauch der Muttersprache bei den Behörden möglich sein soll. Man glaubte sogar an die Möglichkeit der Straßenbenennung in deutscher Sprache.

Des weiteren ist im März 1992 eine Verordnung des polnischen Bildungsministeriums erlassen worden. Darin heißt es, daß in Kindergärten und Schulen nicht nur der muttersprachliche Unterricht praktiziert werden kann, sondern daß auch zweisprachige Schulen beziehungsweise zweisprachige Kindergärten eingeführt werden können. Keiner dieser Punkte ist in dieser Weise realisiert worden. Wenig davon gehört derzeit zum Standard.

Die rechtlichen Voraussetzungen dafür sind also im Prinzip durchaus gegeben…

Oprzondek: Die rechtlichen Voraussetzungen sind durch die genannten Verträge und Verordnungen in der Republik Polen sowie auf europäischer Ebene in bezug auf die nationalen Minderheiten gegeben. Nur die praktische Umsetzung ist in Polen noch nicht vollzogen worden. Das wird zum Beispiel daran deutlich, daß derzeit in der Republik Polen keine einzige Grundschule besteht, in der Deutsch Unterrichtssprache ist, allenfalls Deutsch als Fremdsprache, zwei oder drei Stunden in der Woche. Diese Unterrichtsart ist unzureichend und kann als muttersprachlicher Unterricht nicht angesehen werden. Wir setzen uns also dafür ein, daß die Verordnung des polnischen Bildungsministeriums verwirklicht wird, das heißt, daß der Volksgruppe Schulen errichtet werden, in denen die Unterrichtssprache Deutsch ist.

Gibt es erste Versuche in diese Richtung?

Oprzondek: Die Ortsgruppen des Deutschen Freundschaftskreises – insgesamt etwa 500 solcher Ortsgruppen existieren bereits im ganzen polnischen Bereich – bemühen sich seit mehreren Jahren, daß die deutsche Sprache auch den Kindern angemessen beigebracht wird. Das geschieht durch ehrenamtliche Lehrer, die in den Kindergärten und Vorschulklassen beziehungsweise der ersten oder zweiten Schulklasse Deutschunterricht geben. Aber das sind eben nur zwei oder drei Stunden pro Woche. Und das reicht überhaupt nicht aus, um der jungen Generation Deutsch als Muttersprache nahezubringen.

Wo werden der Durchsetzung des muttersprachlichen Unterrichts Steine in den Weg gelegt?

Oprzondek: Die Eltern der Kinder müssen, bevor Deutsch als muttersprachlicher Unterricht eingeführt wird, schriftlich erklären, daß sie dies wollen. Schon dieser Zwang, sich schriftlich erklären zu müssen, verunsichert unsere Landsleute. Normalerweise hat der polnische Staat die Aufgabe, den Bürgern eine entsprechende Ausbildung in der Muttersprache zu garantieren. Das tut er jedoch nicht, sondern errichtet geschickt Hindernisse, indem er die Eltern zwingt, solche Erklärungen abzugeben. Oft wird von den Direktoren der Schulen den Eltern gesagt, daß dadurch eine Behinderung der Kinder eintritt, weil diese dann die deutsche Sprache, nicht die polnische Sprache könnten. Durch solche psychologischen Gespräche sind viele Eltern verunsichert worden. Das ist aber mittlerweile im Abklingen. Aus den Berichten der Ortsgruppen weiß ich, daß immer mehr Eltern davon überzeugt sind, daß die Kenntnis der Muttersprache auch positive Perspektiven in Bezug auf ein freies Europa eröffnet. Viele Deutsche haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit. Und diese gibt ihnen die Möglichkeit, in die Bundesrepublik zu kommen, sich weiterzubilden, zu arbeiten und wieder in die Heimat zurückzukehren.

Allein die Existenz der AGMO läßt den Schluß zu, daß von staatlicher deutscher Seite nicht ausreichend Unterstützung erfolgt.

Oprzondek: Unterstützung ist sehr wohl von deutscher Seite vorhanden. Die Bundesrepublik leistet auch finanzielle Unterstützung gegenüber der deutschen Volksgruppe. Im Haushalt werden etwa 25 bis 27 Millionen Mark pro Jahr für diesen Zweck bereitgestellt. Insofern ist also ein Bemühen vorhanden. In diesen Gebieten leben aber schätzungsweise eine Million, vielleicht auch zwei Millionen Deutsche. Wenn Sie diese Summe umrechnen, so sind das pro Person im Durchschnitt zirka 20 Mark. Damit kann man natürlich nicht viel machen, auch keine Schulen aus dem Boden stampfen. Die Unterstützung ist insofern zu gering. Ein Bemühen seitens der Bundesregierung ist vorhanden, allerdings nach unserer Auffassung viel zu gering. Daß die Mittel im genannten Umfang nicht ausreichend sind, erkennt man deutlich daran, daß bis heute keine Grundschule mit Deutsch als Unterrichtssprache eingeführt worden ist, obwohl die genannte Verordnung bereits im März ’92 erlassen wurde.

Das ist demnach eines ihrer Hauptanliegen. Wie wollen Sie das aber finanzieren?

Oprzondek: Wir finanzieren uns derzeit ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Da wir aber nur über geringe geldliche Mittel verfügen, müssen wir uns auf ganz bestimmte Bereiche beschränken und versuchen, den Deutschen dort zu helfen, wo keine besondere Unterstützung seitens der polnischen oder der deutschen Regierung zu verzeichnen ist. Deshalb konzentrieren wir uns unter anderem auf die Unterstützung der ehrenamtlichen Lehrer der Volksgruppe, die Deutschunterricht in den Kindergärten und den ersten zwei Grundschulklassen geben. Diesen stellen wir entsprechend unseren Möglichkeiten didaktisches Material zur Verfügung.

Die Auswanderungswelle der vergangenen Jahre aus der Polnischen Republik ist zum Erliegen gekommen. Wo sehen Sie die Ursachen dafür?

Oprzondek: Die Auswanderungswelle hat zum einen auf Grund der eingebauten Restriktionen der Bundesregierung abgenommen. Wer aussiedeln will, muß einen Antrag beim Konsulat stellen und eine sehr umfangreiche Dokumentation über die Familiengeschichte beifügen. Insbesondere diese Situation hat bewirkt, daß viele Deutsche nicht mehr die Möglichkeit haben, einen Antrag abzugeben. Zweitens kommt natürlich die Entwicklung der letzten Jahre zum Tragen. Viele in den Heimatgebieten hoffen, daß die Volksgruppe eine Überlebenschance hat, sei es durch die Unterstützung seitens der Bundesrepublik, der landsmannschaftlichen Verbände oder auch anderer Organisationen, denen das Schicksal der Ostdeutschen nicht gleichgültig ist.

Halten Sie den Fortbestand der deutschen Volksgruppe für gewährleistet und für möglich?

Oprzondek: Wir haben in unserem AGMO-Intern den Senator und Präsidenten der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in der Republik Polen, Professor Bartodziej, erst kürzlich zu Wort kommen lassen. Es sagte wörtlich: "Die Perspektiven für das Überleben als organisierte Volksgruppe sind gering, und die bisherigen Hilfsmaßnahmen kann man nur als humanitäre Hilfe betrachten. Wird sich unsere Lage weiter so entwickeln wie gegenwärtig, dann sind wir zum Aussterben verurteilt." Um als Volksgruppe überleben zu können, ist nach meiner Meinung die Erlernung der Muttersprache notwendig, und zwar von Anfang an.

Was ist im Moment ihr wichtigstes laufendes Projekt in diesen Gebieten?

Oprzondek: Das wichtigste Projekt ist derzeit die Belieferung der ehrenamtlichen Deutschlehrer mit Kinder-Sprachcomputern, Büchern, Kassetten und anderen didaktischen Materialien. Daß diese Unterstützung dringend notwendig ist, erkennt man insbesondere am Beispiel der Grundschule in Tworkau/Oberschlesien, die als erste zweisprachige Grundschule im Bezirk Kattowitz im September ’96 für 13 Schüler eingerichtet worden ist. Wir hatten seinerzeit angenommen, daß dieses Pilotprojekt von den zuständigen Institutionen entsprechend gefördert wird. Unsere Überraschung war jedoch sehr groß, als wir auf Anfrage erfuhren, daß die Klassenlehrerin außer einer Tafel und Kreide nur ein nichtrenoviertes Klassenzimmer zugeteilt bekam. Keine Lehrpläne, keine Bücher, nichts war sonst vorhanden. Ein nicht minder wichtiges Anliegen ist für uns die Unterstützung der Ortsgruppen beim Erwerb und der Einrichtung von Kulturhäusern. Da derzeit nicht zu erwarten ist, daß die polnischen Behörden dafür finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, ist auch hier eine Unterstützung aus der Bundesrepublik durch Förderer notwendig.


 
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