© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/97  11. Juli 1997

 
 
Niklas Luhmann: Die Medien sind unser Schicksal
Dummheit, selbstverschuldet
von Holger von Dobeneck

Fährt man auf der Autobahn, kann man entspannt das Radio einschalten und vielleicht den alten Beatle-Song hören: "We all live in a yellow submarine". Man kann dann auch eine Kassette der sogenannten Autobahnuniversität einlegen, in der originale Universitätsvorlesungen eingespielt sind und kann etwas über Niklas Luhmanns Systemtheorie hören. Wenn man beides kombiniert, hat man den optimalen Einstieg. In einem U-Boot findet nämlich die Realitätsortung durch Echolot und Funkpeilung statt. Wale, Eisberge und Luxusdampfer kommen nur in der Form von Frequenzen auf dem Schirm vor, obwohl sie tatsächlich da draußen vorhanden sind. Auch die neurochemischen Signale unseres Hirns machen nur Klick, Klick, Klick und erzeugen so die ganze bunte Welt einschließlich Niklas Luhmann und seine Systemtheorie. Diese Überlegungen kennzeichnen die Erkenntnistheorie des Konstruktivismus, die grundlegend ist für das Verständnis der Systemtheorie. Vorläufer waren der an den Universitäten der 20er Jahre herrschende Neukantianismus, die Vaihinger-Rezeption um die Jahrhundertwende und natürlich Nietzsche und dann Kant, und sie reicht ganz weit zurück bis in Platos Höhle.

Die Gegenwart beschert uns ein Revival dieser Erkenntnistheorien mit den neuesten Erkenntnissen der Neurobiologie und der Evolutionsbiologie und stellt diese somit auf eine naturwissenschaftliche Basis. Das Buschwindröschen und der Mensch erbringen eine ähnliche Überlebensleistung, indem sie als biologische Systeme zwischen sich und der Umwelt unterscheiden und den Rest als indifferent behandeln. Sie sind Systeme, die durch Stoffwechsel mit der Umwelt immer wieder ihre eigene Struktur erzeugen. Dieses Wechselspiel zwischen Strukturerzeugung und Umweltabgrenzung nennt Luhmann Kommunikation. So ist in der abstrakten Höhe der Luhmann-Welt sprachlich manches ganz anders geregelt als für den Allgemeinverstand üblich. Was man gewöhnlich unter Geld, Macht und Liebe begreift, ist in der Sprache der Systemtheorie ein symbolisch generalisiertes Medium, dessen Funktion es ist, Handlungsketten in Gang zu setzen und zu unterhalten. Luhmann fragt also niemals, was die Liebe oder die Realität ist, sondern nur, wie sie funktioniert. Dieses Umstellen von "Was" auf "Wie" Fragen hält Luhmann für ein Kennzeichen der Moderne. Damit verabschiedet er sich vom alteuropäischen Denken und hat Anschluß an die moderne Wissenschaftstheorie und Evolutionsbiologie. Er und Habermas sind die beiden großen Kontrahenten der Erklärung des Projekts der Moderne. Doch während Habermas seiner Ansicht nach noch über den erloschenen Vulkanen des Marxismus schwebt, beobachtet Luhmann den "Take off" der Moderne. Ganz altmodisch hilft ihm, dabei ein Zettelkasten, ein ausgeklügeltes Kombinations- und Verweisungssystem, dessen Installierung Luhmann mehr Zeit kostet als das Schreiben seiner Bücher, von denen Unmengen vorliegen, seit er sich als Spätentwickler in Sachen Soziologie mit 39 Jahren habilitierte und in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert. Vor seinem theoretischen Zugriff ist nichts sicher, die ganze Welt: Liebe, Macht, Kunst, Wissenschaft und eben die Medien, fügt sich in sein Gedankensystem. So auch in seinem im letzten Jahr erschienenen Buch: "Die Realität der Massenmedien".

Bei alldem fällt auf, daß eine merkwürdige Asymmetrie herrscht zwischen seinen theoretischen Überlegungen und dem empirischen Gehalt seiner Bücher. Fast scheint es so zu sein, daß seine Gegenstände lediglich als Folie für seine Theorie dienen. So erfährt man relativ wenig von der Realität der Medien, außer daß sie diese selbstreferentiell erzeugen.

Das führt im Extremfall zu sogenannten "Pseudo-events", Ereignissen, die wie beschrieben überhaupt nicht stattgefunden haben. Sie erzeugen nur Nebel in den Köpfen und allerhand Geräusch. Manches erinnert dann an Lügen in Zeiten des Krieges, an Propaganda und Public relations. So sind zum Beispiel die von den Irakern während der Kuweit-Besetzung angeblich aus den Brutkästen gerissenen Babys völlig unversehrt, weil sie zum fraglichen Zeitpunkt überhaupt nicht darin gelegen haben.

Aber Luhmanns Erkenntnisinteresse geht auch nicht auf den Wahrheitsgehalt der produzierten Stories, er möchte die Funktion ergründen, die die Medien in der Gesellschaft haben.

Diese Gesellschaft beschreibt Luhmann im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften als ausdifferenzierte Formation, in der keine Einheit mehr gedacht werden kann, weil es kein geeignetes Zentrum mehr gibt, weder einen Adel noch einen Monarchen, die Systeme stehen gleichberechtigt nebeneinander, Wissenschaft kann nicht auf Wirtschaft oder Recht zurückgeführt werden und umgekehrt. Jedes System hat nach Maßgabe seiner Funktion seinen nur ihm gehörenden Code, nach dem es die Wirklichkeit konstruiert.

Für die Wissenschaft ist es die Wahrheit, für das Recht "Rechtmäßigkeit", für die Wirtschaft Geld und für die Medien Information. Dabei bildet Information so etwas wie den Kitt der Gesellschaft. Das System ist trotz riesiger Speicherkapazität eingestellt auf schnelles Erinnern und Vergessen. Das System zwingt sich, ständig für neue Information zu sorgen, es veraltet sich also selbst. "Fresh money and new information", sind das zentrale Motiv. Als Folge dieser auf Information abgestellten Codierung entsteht in der modernen Gesellschaft eine spezifische Unruhe und Irritation. Traditionelle Gesellschaften hatten noch guten Grund, der Neugier zu mißtrauen, führte die "curiositas" doch allzu oft zu einer Entwertung der Institution.

Allergisch reagiert Luhman auf die von den Medien erzeugte Emotionalisierung. Er erwartet von den Menschen Erkenntnisse und keine Bekenntnisse. Ein typischer Fall ist für ihn der "Fall Deckert", wo ein rechtlicher Subsumtionsfehler zu einer Selbstkorrektur der Justiz hätte führen müssen. Das bekenntnishafte Ausschwärmen der durch die Medien emotionalisierten Demonstranten brachte eine gewisse Gefährdung für die Unabhängigkeit der Justiz und den Rechtsstaat. Die Massenmedien scheinen zu bestimmen, wie die Welt gelesen werden soll. Die penetrante Moralisierung blendet aus, daß es keine in der Moral selbst liegenden Gründe gibt, nicht auf Dissens statt auf Konsens abzustellen.

Heiter wird es, wenn Luhmann auf die Funktion der Werbung zu sprechen kommt. Auch Werbung ist Information, und sie manipuliert ganz offen; es ist müßig, sich stets über die angebliche Dummheit der Konsumenten zu mokieren, genauso gut könnte man zu dem Ergebnis kommen, daß ihr ironisierener Kreativitätsreichtum oft kenntnisreich goutiert wird.

Luhmann kommt zu dem Schluß, daß die schemabildende Kraft der Medien unser aller Bewußtsein bestimmt. Da jedoch das Bewußtsein selbst ein autopoietisches System darstellt, das nur nach internen Maßstäben seine Wirklichkeit konstruiert, kann dies nach der Systemtheorie nur auf dem Wege struktureller Koppelung geschehen. Wir sind also selber Schuld, wenn wir unsere eigenen Konstruktionen von den Konstruktionen der Medien abhängig machen.


 
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