© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/97  04. Juli 1997

 
 
Vertreter der Nachgeborenen
von Gerhard Quast

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin, mit über 10.500 Mitgliederstärke bedeutendste Gemeinde Deutschlands, hat sich nicht nur zu einem Zentrum jüdischen Lebens entwickelt - sie bot in den letzten Monaten auch ein Bild der Zerrissenheit: Persönliche Animositäten, Integrationsprobleme mit den jüdischen Zuwanderern, politische Flügelkämpfe, Differenzen zwischen orthodoxen und liberaleren Juden und nicht zuletzt die Auseinandersetzung um das Jüdische Museum vergifteten das Klima und sorgten bundesweit für Schlagzeilen. Einzige Hoffnung auf Veränderung setzten die des Streits šberdrüssigen auf die Neuwahl des Vorstands.

Der bei der Wahl zur Repräsentantenversammlung mit den meisten Stimmen bedachte und als ausgleichende Persönlichkeit geschätzte Andreas Nachama wurde denn auch von vielen als Wunschkandidat für den Vorsitz gehandelt. Als Erleichterung wurde deshalb das Votum des Vorstandes für den Direktor der Stiftung Topografie des Terrors empfunden.

Anders als Jerzy Kanal, der seit dem Tod Galinskis den Vorsitz innehatte und nicht nur das Warschauer Ghetto, sondern auch Majdanek, Auschwitz und Dora-Buchenwald überlebte, hat der neue Vorsitzende den Verlust von Angehörigen oder gar Verfolgungen am eigenen Leib nie erfahren müssen: Der 1951 geborene promovierte Historiker ist ein waschechter Berliner, hat in der geteilten Stadt die Schulbank gedrückt, an der Freien Universität Geschichtswissenschaften und Judaistik studiert und war verantwortlich beteiligt an der Koordination der 750-Jahr-Feier Berlins. Als Leiter der Ausstellung "Jüdisches Leben" vermittelte er Einblicke in die mehrtausendjährige jüdische Kulturgeschichte, ohne allerdings der üblichen Versuchung zu erliegen, diese auf die Verfolgung im Dritten Reich zu verengen.

Die Erkenntnis, daß jüdisches Leben ausgesprochen vielfältig ist, spiegelt sich in Nachamas Verständnis einer pluralistischen Gemeinde wider. "Auch die nichtjüdische Umwelt muß sich daran gewöhnen, daß es nicht ein Judentum gibt, sondern Judentümer", gibt er zu bedenken.

Wie vielfältig das jüdische Leben sich in der Stadt entwickelt hat, demonstrierten die Berliner Juden Mitte Juni mit einem Straßenfest unweit der neuen Synagoge in der Oranienburger Straße. Für diese zunehmende Normalität im Umgang zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bürgern steht auch der neue Vorsitzende, dem nicht nur Bescheidenheit nachgesagt wird, sondern der wo immer möglich den Ausgleich sucht. Nicht immer ist das ohne weiteres möglich, wie die Auseinandersetzungen um die Entlassung des Direktors des Jüdischen Museums durch den Senat deutlich machte. Vorrangige Aufgabe für den neuen Vorsitzenden wird es allerdings sein, die innere Zerrissenheit zu überwinden, die Cliquenwirtschaft zu beenden und Transparenz in die Arbeit zu bringen. Die Voraussetzungen dafür stehen gut.


 
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