© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/97  04. Juli 1997

 
 
Erfolgreich auch ohne Konfrontation
von Hans Brandlberger

Auf dem NATO-Gipfel von Madrid am Dienstag und Mittwoch kommender Woche wird nun doch ausgerechnet das The- ma im Vordergrund stehen, das die Allianz am niedrigsten zu hängen versuchte: Die Staats- und Regierungschefs der 16 NATO-Mitglieder werden Polen, die Tschechische Republik und Ungarn zum Beitritt einladen. Die Allianz hat das, was sie sich bis Madrid vorgenommen hatte, weitgehend realisiert: Im Eilverfahren wurde mit Rußland eine Grundakte ausgehandelt und am 27. Mai in Paris unterzeichnet, die der "strategischen Partnerschaft" zwischen der NATO und dem wichtigsten Faktor aus der Erbmasse der einstigen Sowjetunion ein Gesicht geben soll. Mit nicht geringerem Tempo einigte man sich mit der Ukraine auf eine "Charta", die am Rande des Madrider Gipfels unterzeichnet werden wird. Und nicht zuletzt hat man auf der Außenministerkonferenz im portugiesischen Sintra eine neue Phase im Programm "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) eingeläutet und zugleich den "Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat" (EAPC) konstituiert, der an die Stelle des 1991 geschaffenen "Nordatlantischen Kooperationsrates" (NACC) tritt. Einzig die Reform der inneren Struktur, die in Madrid verkündet werden sollte, ist noch nicht spruchreif. Hier zeichnet sich zwar deutlich ab, wieviele Kommandoebenen und welche Hauptquartiere es in Zukunft geben wird.

Umstritten ist aber weiterhin der nationale Proporz. Das Menetekel Henry Kissingers, daß die NATO Gefahr liefe, wie die UNO auf den Status eines Debattierklubs herabzusinken, kann also kaum gemeint haben, daß das Bündnis beschlußunfähig geworden wäre. Eher ist es so aufzufassen, daß das Selbstverständnis der NATO sich von einem einst vor allem militärischen zu einem nun in erster Linie politischen gewandelt hat. Die Alternative wäre es gewesen, die NATO, nachdem die militärische Bedrohung nun einmal weggefallen war, nach dem Vorbild der Westeuropäischen Union (WEU) in ein Schattendasein zu überführen oder gar aufzulösen, wie es dem Warschauer Pakt ja immerhin auch widerfahren war. Wer aber, wenn nicht die NATO mit ihrem Nimbus, als Sieger aus dem Kalten Krieg hervorgegangen zu sein, hätte die Aufgabe übernehmen können, der neuen Lage in Europa sicherheitspolitisch Stabilität zu geben? Die Europäische Union? Die WEU? Die KSZE/OSZE oder gar die UNO? Diesen Institutionen hätte es sicher nicht an entsprechenden Absichten gefehlt, wohl aber an einer vergleichbaren Machtprojektion.

Die NATO hatte nach der Implosion des östlichen Widerparts die Fähigkeit zum Diktat, mußte diese aber nicht ausspielen. Die neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas gingen aus eigenem Antrieb auf sie zu und auf ihre Bedingungen ein. Eher hatte die NATO damit zu tun, übereilige Annäherungsversuche bis hin zum Begehren, Mitglied zu werden, zu kanalisieren. Dabei hat sie ihre auf dem Gipfel von Rom im November 1991 beschlossene, neue, jetzt vor allem politisch akzentuierte Strategie Schritt für Schritt in die Praxis umgesetzt. Unter Wahrung der kollektiven Verteidigungsfähigkeit wollte man nunmehr zur Kooperation bereit und zum Dialog fähig sein - also schuf man als ein erstes Forum dafür den Nordatlantischen Kooperationsrat (NACC), dem die NATO-Mitglieder und alle Staaten des einstigen Warschauer Paktes (nach dem Zerfall der Sowjetunion auch deren Nachfolgestaaten) beitraten. Weitere, "neutrale" Länder stießen später hinzu. Die Resultate dieser Institutionen waren eher atmosphärischer Natur. Deutlich darüber hinaus ging jedoch schon wenig später die Initiative "Partnerschaft für den Frieden" (PfP), zu der die NATO auf dem Gipfel von Brüssel Anfang 1994 einlud. Was zunächst als eine Goodwill-Aktion erscheinen mochte, zum Beispiel das Angebot gemeinsamer Übungen und Ausbildung, erwies sich als ein nützliches Instrument, Nicht-NATO-Mitglieder an das Bündnis heranzuführen und in dessen Politik einzubinden. 28 Staaten, die nicht der Allianz angehören, sind es unterdessen, die sich in diesem Programm in unterschiedlicher Intensität engagieren, zuletzt wurde sogar die Schweiz "PfP-Partner". Nicht zu unterschätzen ist dabei sicher ein militärisch-praktisches Kalkül: Die NATO ist sich bewußt, daß sie die derzeit realistischen Operationen, zum Beispiel friedenserhaltender oder humanitärer Provenienz im Auftrag der UNO oder der OSZE, in der Regel unter Einbeziehung von Streitkräfte-Kontingenten solcher Staaten durchzuführen hat, die außerhalb des Bündnisses stehen. Da ist es sinnvoll, in der langen Frist die Interoperabilität mit so vielen Partnern wie möglich zu verbessern.

Der politische Aspekt des PfP-Programms dürfte aber noch wichtiger sein: Wer PfP-Partner wird, bekräftigt nicht nur noch einmal seine Verpflichtung auf die UNO-Charta und vielerlei anderer Dokumente, und er verkündet auch nicht nur, internationale Spielregeln einhalten zu wollen. Vor allem erklärt er sich dazu bereit, die eigenen Streitkräfte den (demokratischen) Kontrollen zu unterwerfen, die in NATO-Staaten (mit der notorischen türkischen Ausnahme) üblich sind. Die Allianz läßt es sich nicht nehmen, beim demokratischen Umbau oder gar Neuaufbau der Streitkräfte auch zu assistieren.

Ob das PfP-Programm aber ein Versuchsfeld ist, auf dem sich die Beitritts-Aspiranten herauskristallisieren, ist zu bezweifeln. Wenn es nach den bloßen Kriterien ginge, die die NATO nach ihrer Ende 1995 vorgestellten, allerdings nicht bindenden Studie, an neue Mitglieder anlegen sollte, müßten eigentlich so gut wie alle PfP-Partner beitreten können, sofern sie es nur wollten. Die demokratische Bonität der Kandidaten muß gegeben sein, reicht aber alleine nicht aus: Ihre Einladung muß, wie NATO-Generalsekretär Javiar Solana es ausdrückte, "ein Beitrag zu Sicherheit und Stabilität im Nordatlantischen Gebiet zum Zeitpunkt der Beschlußfassung sein". Dies beschränkt im Moment die Zahl der Kandidaten, läßt aber weitere Runden bei passender Gelegenheit erwarten.

Die NATO mag sich passiv geben, sie mag herausstellen, daß die Offenheit nun einmal ein Teil ihres Selbstverständnisses ist, an dem sie nicht rütteln will: Die Osterweiterung liegt vor allem in ihrem eigenen strategischen Interesse, und daher ist es legitim. daß sie sie betreibt. Die Tatsachen, die das Ende des Warschauer Paktes und die Auflösung der Sowjetunion geschaffen haben, gilt es nun zu besiegeln. Die "strategische Partnerschaft", die die NATO mit Rußland exerzieren will und die immerhin sogar in eine Institution, den Ständigen Gemeinsamen Rat, gegossen wurde, signalisiert, daß die "junge russische Demokratie" die Politik des Bündnisses nicht als gegen sich gerichtet auffassen könnte, jedenfalls dann nicht, wenn sie auch die Rolle spielt, die ihr zugedacht ist. Gerade mit dieser Rolle dürfte sich Moskau allerdings, ganz gleich unter welchem Regime, kaum anfreunden können. Abgesehen davon, daß der Westen de facto eine Art mittelbares Veto über die innere Ordnung Rußlands beansprucht, hat sich Moskau damit abzufinden, daß sein Einfluß an seinen eigenen Staatsgrenzen endet - und auch dies hat es, wie der Tschetschenien-Konflikt zeigte, noch mit Dankbarkeit zu quittieren. Hier handelt es sich um einen Interessengegensatz, der auf absehbare Zeit unversöhnlich ist, was nicht heißt, daß er eskalieren müßte. Im Gegenteil: Die Karten könnten mehr und mehr so verteilt werden, daß sich Rußland in seine Rolle findet.

Dieser Interessengegensatz läßt es jedoch als Geboten erscheinen, die NATO (mit ihrer unveränderten gegenseitigen Beistandsverpflichtung in der Hinterhand) so nah wie möglich an die russischen Grenzen heranzuführen. Das Tempo dieses Prozesses wird auf Moskau Rücksicht nehmen können, die Richtung nicht.

Die neue Lage nach dem Ende des Kalten Krieges hat der NATO aber nicht nur eine gewachsene, nunmehr gesamteuropäische Geltung beschert, sie hat auch zentrifugale Kräfte freigesetzt: "Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" steht auf der Tagesordnung, und dieses könnte sehr schnell zu einer Qualitätsminderung des Bündnises führen - ohne daß sie dies allerdings müßte. Auch diese Entwicklung war und ist, bis zu einem gewissen Grad, nur konsequent: Im Rahmen von Abrüstung und Streitkräftereduzierung hat sich die amerikanische Präsenz in Europa verringert. Das Nuklearwaffenpotential der USA wird zwar dankend zur Kenntnis genommen, aktuell gibt es aber keine Bedrohung, die damit abzuschrecken wäre. Die Konfliktszenarien, die derzeit als denkbar erscheinen, sind regional eng begrenzt und zudem in Europa oder doch "vor der europäischen Haustür" gelegen, so daß sie im Prinzip auch ohne amerikanische Mitwirkung in den Griff zu bekommen sein sollten. Es ist also nicht nur ein Preis für eine Rückkehr Frankreichs in die militärische Integration, daß die Europäer "mehr Verantwortung im Bündnis" übernehmen dürfen. Diese Europäisierung im Rahmen der NATO vorzunehmen, verhindert immerhin, daß außerhalb des Bündnisses parallele Strukturen aufgebaut werden, die nicht bloß eine Ressourcenverschwendung bedeuten würden. Gelänge es beispielsweise, die WEU mit Leben zu erfüllen, eine allerdings unwahrscheinliche Vorstellung, und würde sich die WEU dann auch noch als eines der Instrumente einer Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik unter dem Dach der Europäischen Union einfinden, wie es der Maastrichter Vertrag ja als Wunsch in den Raum stellt, dann wäre der Zusammenhalt zwischen den USA und Europa, die vielbeschworene "transatlantische Solidarität" einer raschen Erosion ausgesetzt. Dies liegt nicht im Interesse der Amerikaner und auch nicht in dem der (meisten) Europäer - auch nicht der Deutschen. Die Bemühungen um Stabilität in Mittel- und Osteuropa basieren auf einer Mitwirkung der USA - mit ihrem politischen und militärischen Gewicht und mit ihrer Fähigkeit, als Führungsmacht auch im Bündnis auftreten zu können. Was eine Europäisierung, die nicht mehr durch eine Bedrohung zur Räson gebracht wird, zunächst bedeutet, dafür liefert gerade die NATO in diesen Monaten Anschauungsmaterial: Traditionelle griechisch-türkische und neue spanisch-portugiesische Rivalitäten verzögern im Verbund mit dem französischen Streben nach Dienstposten, die die Amerikaner aus gutem Grund für sich reklamieren, die überfällige Strukturreform, die eigentlich schon in Madrid beschlossen werden sollte. Insofern kann es zuversichtlich stimmen, daß die "Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität" auf dem Gipfel noch keine Gestalt annehmen wird.


 
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