© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
Standort Deutschland: Siege nur noch auf dem Rasen
Im Bann des Balles
Meinungsbeitrag
von Ilse Meuter

Kreuzzüge, Krieg und selbst der Massentourismus haben die Europäer
nicht wirklich scheiden können. Sie haben die Völker eher zusammenrücken lassen, wie die moderne Entwicklung zeigt: die Versozialdemokratisierung Europas, die US- Massenkultur, die europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die NATO, die Vernetzung des Westens mit den ost-/mitteleuropäischen Ländern, in Kürze die Währungsunion. Das ist unumkehrbar, vergleichbar allenfalls mit der Pax Romana, dem Heiligen Römischen Reich Karls, dem, was Napoleon vorschwebte, womöglich sogar manchen Visionären des unseligen Dritten Reichs. Nun wird Europa – was auch immer daraus werden wird.

Nach einer ganz bestimmten Art von "Europa" wollen nun auch die Fußballer, näherhin die deutschen Proficlubs der ersten Liga. Alle wollen sie "nach Europa". Denn dort, konkret die europaweit (incl. Israel, Türkei und Malta, excl. der übrige südliche Mittelmeersaum) ausgetragenen Wettbewerbe um die Europapokale für Vereinsmannschaften – dort wartet die ganz große Kohle. Dort gibt es randvolle Stadien, Geld aus TV-Ruhm, Geld aus explodierenden Umsätzen in Sachen Fußball-Devotionalien (pro Kindertrikot 100 Mäuse!), Geld aus den Töpfen des Fußballverbandes, Geld aus Bandenwerbung, Geld aus VIP-Logen, Geld aus überhaupt allem.

Doch vor den Geldtopf haben die Fußballgötter den Streß gesetzt; Teams wie Karlsruhe, Schalke, Bochum und 1860 München haben "Europa" ohne das ganz große Geld erreicht; das Können des Trainers, der Ehrgeiz der Mannschaft mußte ausreichen. Doch ein Axiom bleibt in Kraft: um in Europa zu bleiben, sich auf Dauer, wie Bayern München, Dortmund, ehedem Bremen, Gladbach und Köln, "in Europa" halten zu können, dazu ist Geld, viel Geld zum Stareinkauf nötig. Bei Bayer Leverkusen schießt es die Pillenfabrik zu. Kommt dann noch ein Maniak wie Christoph Daum und reißt das Millionenteam aus dem Schlendrian, ist der Weg "nach Europa" unvermeidlich.

Mittlerweile kostet selbst ein mittelmäßig begabtes Talent eine Million und die Tendenz ist steigend. Dabei macht den wahren Spielcharakter in der Liga die Tatsache aus, daß die Amortisation solcher Investitionen keineswegs gesichert ist. Der Showleistungssport Fußball geht in ein faszinierendes Zockertum über: Wo sonst in "unserer Gesellschaft" ginge ein Anleger solches Risisko ein? Ein einziger Tritt des Gegenspielers kann das erste Spiel eines solch hüpfenden Kapitals zum letzten werden lassen. Der Club hätte sein Geld in den Schornstein gepustet, es geschähe dies nicht zum ersten Mal. Just in einer aus Angst um Sicherheitsgrade bestehenden Gesellschaft übt solche Risikofreude enormen Reiz aus, hier, "in Europa", hat Vabanque noch Konjunktur.

Alle wollen also nach Europa. Heuer wird es die Hälfte aller Erstliga-Clubs im Standort D nach Europa bringen. Eine wahre Triumphkette ließ einheimische Kader in Wembley, Mailand und München obsiegen. Schon 1990 sagte Fußball-Kaiser Franz voraus, daß mit der Vereinigung von BRD- und DDR-Liga "wir Deutsche auf Jahre hinaus nicht mehr zu schlagen sein werden". Nachdem "wir" 1954 im Berner Wankdorf-Stadion nachträglich den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatten, entscheiden "wir" ihn nun Jahr für Jahr "in Europa" zu unseren Gunsten. Dabei hilft mittlerweile der Umstand, daß ein Drittel der hiesigen Leistungsträger aus dem sogenannten Ausland, also aus aller Welt kommen. Hauptsache ist, "wir" holen den Pott bzw. die Pötte, am besten gleich in den Ruhrpott, also "des Reiches Waffenschmiede", wie vordem jene "Region" genannt wird, mit der Mitleid zu haben seit einigen Jahren Mode geworden zu sein scheint. Der Stahlkocher, der Kohlekumpel, der Malocher und wie sie alle heißen: ihr Stolz rollt ballförmig auf dem gepflegten Rasen, und nirgends scheint die unvergleichliche Symbiose von teutonischem und slawisch-polnischem Blut inngiger als "im Pott". Der hohe polnische Anteil am dortigen Genpool schafft sich eine rührselige, tränenreiche Phantasiewelt, die den Herrschenden angesichts scharf nach unten weisender Prosperitätsdaten gerade recht kommt. Siege sind neuerdings "gut für die ganze Region", ja man könnte in den hinter "uns" liegenden Monaten glauben, ganz Standortdeutschland sei zu einer einzigen flennenden, kreischenden, hysterischen Groß-Region mutiert, sei schon jetzt, was bislang erst auf Brüsseler Blaupausen existiert: Europa, dessen Nationen ausgelöscht sind, und zwar zugunsten von Euro-Regionen. Die Deutschen sind eben immer und in allem nichts als Musterknaben. Betonung auf – Knaben.

Mit Schrecken harrt der Stille im Lande, der sich etwas darauf zugute hält, auch im Pott-Wirbel, im Fußballwahn, bei Trost geblieben zu sein, jener Monate ab September 1997, in denen es zum Exzess kommen wird: zehn Clubs "in Europa", zehn TV-Spiele inklusive je zehn Rückspielen, incl. Verlängerung und Elfmeterschießen. Man wird dieses zirzensische Europa wohl mit dem Jet verlassen müssen, um jene Region zu pflegen, auf die es ankommt: den eigenen kühlen Kopf.


 
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