© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
Nachruf: Zum Tode des Schriftstellers Lew Kopelew
Ein Leben bis zum Äußersten
von Thorsten Hinz

Die Zeitzeugen, die die prägenden geschichtlichen Ereignisse dieses Jahrhunderts: Revolutionen, Bürger- und Weltkriege, totalitären Versuchungen, später die "kalte" Ost-West-Auseinandersetzung – im Wortsinne – erlebt und erlitten haben und in die neumalklug und selbstgerecht geführten Geschichts-"Diskurse" ein Stück Lebenserfahrung und in bestandenen Bewährungssituationen gewachsenen Autorität einbrachten, treten ab: In der vergangenen Woche nun starb in Köln 85jährig Lew Kopelew, ein Methusalem mit weißem Rauschebart.

Was für ein Leben! Ein 1912 geborener russischer Jude, dem seine Erzieherin die Liebe zur deutschen Literatur einpflanzt, der seine Doktorarbeit über Schillers Dramatik schreibt. In jungen Jahren ist er ein glühender Anhänger der Revolution und beteiligt sich in den frühen dreißiger Jahren am Terror gegen die Kulaken. Er wird Mitglied der Kommunistischen Partei – und gerät gleichzeitig in Widerspruch zum Stalinismus. Im Krieg wird er als Propagandaoffizier eingesetzt. Er verliert einen Bruder an der Front, die Großeltern fallen den Judenmassakern in Babi Jar zum Opfer. Beim Einmarsch der Roten Armee in Ostpreußen versucht er, die Grausamkeiten an der deutschen Bevölkerung abzumildernund wird er wegen "Mitleid mit dem Feind" für zehn Jahre in den Gulag gesteckt. In seinen Büchern hat er schonungslos und selbstkritisch von all dem berichtet. Auch die 1956 erfolgte Rehabilitierung kann den Riß nicht mehr kitten. Mehr und mehr wird er zum Regimegegner, zu einer moralischen und poltischen Gegen-Instanz im Sowjetreich. 1980 kommt er durch Vermittlung seines Freundes Heinrich Böll in die Bundesrepublik. Er wird ausgebürgert, Deutschland wird seine zweite Heimat. Bis zuletzt wirkt er als Mittler zwischen Deutschland und Rußland, auf kulturellem Gebiet und darüber hinaus. Als einer der ersten mahnt er den Westen, Gorbatschows Machtantritt als Chance zu begreifen.

Wer ein so schweres, reiches und erfülltes Leben geführt und den Kelch der Irrtümer und Leiden bis zur Neige geleert hat, der neigt im Wissen um das " im guten und schlechten Sinne " Menschenmögliche zum Verzeihen und zum Mitleiden, dem ist die Selbstgerechtigkeit flachbrüstigerer Generationen suspekt. Er widerspricht Wolf Biermann, als dieser scharfe Attacken gegen Schriftsteller aus der Ex-DDR reitet. Natürlich forderten Kopolews Äußerungen auch zu Widerspruch heraus. Aber stets hat er die Diskussionen um eine ethische Tiefendimension bereichert, ohne die Wahrheit nicht zu haben ist.


 
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