© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/97  27. Juni 1997

 
 
Religion: Viele Geistliche haben sich innerlich von Glauben getrennt
Kirchen in der Krise
von Thorsten Thaler

Soviel Aufmerksamkeit war selten. Vier Tage lang sorgte der 27. Deutsche Evangelische Kirchentag in Leipzig mit seinen rund 100.000 Teilnehmern für ein erhöhtes Interesse der Medien gegenüber der Kirche. Live-Reportagen, Interviews und Talkshows vermittelten – trotz gelegentlich kritischer Untertöne – alles in allem den Eindruck einer heilen kirchlichen Welt. Doch der Schein ist trügerisch. Im alltäglichen Gemeindeleben zieht die Institution Kirche immer weniger Menschen an. Von einer Umkehr aus dem Tal der Krise kann bei beiden Volkskirchen, zumal der evangelischen, überhaupt nicht die Rede sein.

Dieser Befund wird von einer aktuellen Umfrage des Bielefelder Meinungsforschungsinstituts Emnid gestützt. Danach ist der christliche Glaube selbst unter Kirchenmitgliedern nur noch spärlich verbreitet, das Heidentum bis weit in die Kirchen vorgedrungen. Bei einer Befragung von 2.000 Bundesbürgern ab 14 Jahren im Auftrag der Hamburger Wochenzeitung Das Sonntagsblatt betrachtete lediglich jeder dritte regelmäßige Kirchgänger Gott als ein "persönliches Gegenüber"; jeder vierte Protestant und jeder sechste Katholik glaubt noch nicht einmal an irgendeine "göttliche Kraft". 27 Prozent der Protestanten und 18,5 Prozent der Katholiken fühlen sich "keiner Religion nahe".

Besonders Menschen mit höherem Schulabschluß nehmen den Demoskopen zufolge Abschied vom Christentum. So glauben zwar 24,2 Prozent der Volksschüler an einen persönlichen Gott, aber nur 12,5 Prozent der Abiturienten. Als Trugschluß erweist sich die Annahme, die Abkehr vom christlichen Glauben sei auf die jüngere Generation beschränkt. Während eine Mehrheit der über 60jährigen (55 Prozent) Gott nicht in der Kirche, sondern "in der Natur" sucht, sind dies bei den unter 20jährigen nur 42 Prozent.

Die gleichgültige Haltung einer zunehmend verweltlichten Gesellschaft gegenüber den beiden Volkskirchen korrespondiert mit der Einstellung von Geistlichen zu Glaubensfragen. In einer Untersuchung des Religionssoziologen Klaus-Peter Jörns erklärten 66 Prozent der befragten Geistlichen in Berlin und Brandenburg, das Jüngste Gericht werde es nicht geben. Für 27 Prozent sei Jesus Christus nicht Gott und für 64 Prozent die Bibel nicht heilig. Für den Leiter des Geistlichen Rüstzentrums im niedersächsischen Krelingen, Pfarrer Wilfried Reuter, sind diese Zahlen ein Beleg dafür, daß der evangelischen Kirche der "innere Konkurs" droht. "Eine Kirche, die Pfarrer ausbildet und einstellt, denen Gott nicht heilig, Jesus nicht Gott, die Bibel nicht Gottes Wort ist, hat sich im Kern schon preisgegeben", schreibt Reuter in der Zeitschrift des Zentrums.

Im Bewußtsein ihrer fehlenden Anziehungskraft sucht die evangelische Kirche in zunehmendem Maße, Partikularinteressen zu bedienen. Techno-Parties in Gotteshäusern für Jugendliche, eine "feministische" Theologie für Frauen, die der "Spur der Göttin" folgen, und die Diskussion um eine kirchliche Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren sind dabei nur Ausdruck einer verzweifelten Suche nach dem Platz der Kirche in der heutigen Gesellschaft. Für ihre originären Aufgaben bleibt da kaum mehr Raum. Trost und Hoffnung, beides Haltepunkte für sinnsuchende Menschen, spendet allenfalls noch Pfarrer Fliege.

Die Institution der Volkskirche hat ihr Monopol auf den Glauben der Menschen verloren. Die Hüter des Christentums werden sich künftig auf dem Markt der sinn- und identitätstiftenden Möglichkeiten gegen eine Vielzahl von Konkurrenten behaupten müssen. Der Kirche steht ihre Bewährungsprobe erst noch bevor.

Mehr zu diesem Thema lesen Sie in der Printausgabe auf der Seite 6


 
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