© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/97  20. Juni 1997

 
 
Vortrag: Der israelische Historiker Zeev Sternhell über den Faschismus
Weder rechts noch links
von Steffen Keller

Der Vortragssaal der Münchener Siemens-Stiftung, gediegen in einem Kavaliershaus von Schloß Nymphenburg untergebracht, war am Montag der vergangenen Woche bis auf den letzten Platz gefüllt. Die allgemeine Aufmerksamkeit galt einem Referenten, dessen Name in Deutschland eigentlich nur wenigen bekannt ist: der des israelischen Historikers und Politikwissenschaftlers Zeev Sternhell, Professor an der Universität Jerusalem. Sternhell, 1935 im polnischen Przemysl als Kind jüdischer Eltern geboren, überlebte die Zeit der deutschen Besetzung, weil man ihn als jungen Katholiken ausgab. Nach Kriegsende, 1946, kam er außer Landes und wuchs in Südfrankreich auf. 1961 entschloß er sich, nach Israel zu gehen und studierte dort sowie in Paris Geschichte und Politologie.

1969 wurde Sternhell an der Sorbonne promoviert. Das Thema seiner Arbeit, die 1972 unter dem Titel "Maurice Barres et le nationalisme francais" in Buchform erschien, war die ideologische Entwicklung des jungen Schriftstellers Barres, einer Schlüsselfigur der franzäsischen Rechten nach der Niederlage gegen Preußen-Deutschland. Bis dahin blieben alle Deutungen von Barres immer im Rahmen des traditionellen Deutungsschemas, demzufolge Barres zwar einen etwas überspannten Revanchismus gepflegt habe, aber im Grunde ein konservativer Patriot gewesen sei. Diese Auffassung widerlegt Sternhell mit seiner detaillierten Untersuchung. Er wies nach, daß das antibürgerliche Moment im Denken Barres", sein Entschluß zum Appell an die Massen, ebenso ernstgenommen werden müsse wie sein Antisemitismus, die virulente Xenophobie und seine Erfindung einer neuen Ideologie: des "National-Sozialismus".

Etwas verkürzt lautet die These Sternhells, daß sich bei Barres zum ersten Mal das "faschistische Minimum" fand, als Gesamt von Antirationalismus, Antimaterialismus, Antiliberalismus und Antiindividualismus, wobei der Antisemitismus im Kampf gegen die Dritte Republik insofern eine entscheidende Rolle spielte, als im Feindbild des Juden alle Teilfeindbilder (der Aufklärer, der Marxist, der Kapitalist, der Intellektuelle) zusammentraten. Die Auffassung von einem Faschismus avant la lettre, der ein spezifisch franzäsisches Gewächs war, weil in der Zwischenkriegszeit nur Frankreich alle Merkmale einer tief verunsicherten Massengesellschaft zeigte, die den Aufstieg dieser Weltanschauung wesentlich erklären, läste schon bei Erscheinen der Studie von Sternhell Überraschung aus. Die wurde noch gräßer, als derselbe Autor 1978 eine Arbeit mit dem Titel "La droite revolutionnaire. Les origines francaises du fascisme 1885-1914" veräffentlichte, die das am Beispiel von Barres Ausgeführte jetzt verallgemeinerte und auf eine breitere Basis stellte. In seiner neuen Untersuchung wies Sternhell nach, daß der Boulangismus und die Dreyfus-Affäre keine isolierten Vorgänge waren, die man in der Geschichte des europäischen Faschismus vernachlässigen känne, sowenig man Charles Maurras oder Georges Sorel als randständige Theoretiker betrachten dürfe. Vielmehr entstand nach seiner Meinung gerade in Frankreich die Voraussetzung einer politischen Synthese, die für eine Welt, die am Ende des 19. Jahrhunderts tief verunsichert das Zerbrechen aller ihrer Hoffnungen auf allgemeinen Wohlstand und allgemeine Sittlichkeit infolge des allgemeinen Fortschritts erleben mußte, etwas radikal Neues war und etwas, das man - nach den Maßstäben der Zeit - "weder rechts noch links" einordnen konnte. Unter dem Titel "Ni droite, ni gauche. L'ideologie fasciste en France" publizierte Sternhell 1983 schließlich sein drittes Buch, das der Wirkung der Weltanschauung, die er zuerst bei Barres nachgewiesen hatte, unter den Bedingungen ihrer Entfaltung im 20. Jahrhundert gewidmet war.

In seinem Münchner Vortrag hat Sternhell das, was in seiner Trilogie zur Geschichte des franzäsischen Faschismus breit ausgeführt wurde, knapp zusammengefaßt. Vor allem ging es ihm darum, hervorzuheben, daß der Faschismus eine andere Art von "Zivilisation" präsentierte, einen Gegenentwurf zu dem der Aufklärung, faschistische "Läsungen", im Kontrast zur fortgesetzten "Debatte" der Liberalen. Diese "Zivilisation" habe ihre Wurzeln in dem, was Mussolini mit Bezug auf Ernest Renan als "vorfaschistische Erleuchtung" bezeichnete, jene Abwendung einer ganzen Generation westlicher Intellektueller von den Verheißungen des Progressiven, und Hinwendung zur "Geschichte", zum "Volk", zum "Willen" und zu den großen Gefühlen.

Die im weitesten Sinne faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit waren in sich sehr heterogen und unterschieden sich im Hinblick auf ihre ideologischen Vorgaben oft deutlich von vielem, was dann in den italienischen und deutschen Regimen verwirklicht wurde, aber sie folgten alle demselben Grundimpuls, dem Entschluß, eine "neue Kultur" zu schaffen. Die Idee einer "neuen Kultur" faszinierte das intellektuelle Europa der zwanziger und dreißiger Jahre, von Jose Ortega y Gasset in Spanien über Hendrik de Man in Belgien bis zu Mircea Eliade in Rumänien, von Knut Hamsun in Norwegen bis zu Giovanni Gentile in Italien, faszinierte es sogar da, wo es sich nicht dem Faschismus anschloß. Denn der Faschismus erschien immer als ästhetische Option und als Mäglichkeit, wie Sternhell formulierte, "die Demokratie im Namen des Volkes zu zerstären". Er bot den panikisierten Massen an, das Problem ihrer Identität zu läsen und anders als der Liberalismus die unerträglichen Spannungen zu beseitigen, die zwischen der Existenz des Individuums und den Forderungen des Kollektivs in der modernen Gesellschaft bestehen.

An dieser Stelle seiner Ausführungen bemerkte man am deutlichsten die Beunruhigungen Sternhells über seine eigenen Thesen. Er beharrte darauf, daß man den Faschismus weder als eine Variante des Totalitarismus noch als "Zwischenspiel" (Benedetto Croce) der europäischen Geschichte begreifen känne. Mit deutlicher Referenz an den anwesenden Jürgen Habermas wurde dieses Plädoyer ergänzt um eine Apologie der "Modernität" im Sinn der "Ideen von 1789". Diese auf den erste Blick überraschende Volte erklärt sich tatsächlich nicht aus irgendwelchen wissenschaftlichen Zwängen, sondern allein aus der Annahme, daß es keinen methodisch zuverlässigen Grund gibt anzunehmen, daß die Epoche des Faschismus beendet ist. Eine Feststellung, die ausdrücklich als Warnung gedacht ist, daß die faschistische Option unter aktuellen Umständen wieder an Attraktivität gewinnen kännte.

Nur stellt sich die Frage, ob dieser Gefahr mit den von Sternhell angebotenen Mitteln zu begegnen ist. Seine Vorstellung, die westlichen Gesellschaften ließen sich noch zum guten alten Fortschrittsglauben zurücklocken, wirkt weder plausibel noch praktikabel. Sternhell hat damit nicht einmal ein Publikum überzeugt, das seinen Ausführungen sonst sehr wohlwollend, in vieler Hinsicht unkritisch, gegenüberstand. Ohne deshalb seinen Analysen ihren Rang abzusprechen, wird man doch feststellen müssen, daß es in dieser Betrachtung des Gegenstands einen blinden Fleck gibt: "Faschismus" ist, wie Hermann Heller einmal schrieb, ein "Antwortgefühl", und er gewinnt seine Anziehungskraft aus existentiellen Fragen, die in einer offenen Gesellschaft geleugnet, für unwichtig oder für unbeantwortbar erklärt werden. "Faschismus" ist eine bestimmte Reaktion auf eine bestimmte Lage, die zu ignorieren selbstverständlich nicht die Reaktionsmäglichkeit zum Verschwinden bringt.


 
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