© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/97  20. Juni 1997

 
 
Pankraz, Josef Stalin und die mediale Spaßkultur der Nach-68er
von Günter Zehm

Schon lange nicht mehr hat Pankraz ein Buch mit solchem Mißvergnügen gelesen wie jetzt den neuen Reader von Norbert Bolz, "Die Sinngesellschaft" (erschienen im Econ-Verlag). Scheinbar rechnet darin der Essener Pop-Philosoph mit den 68ern ab, mit ihren Anmaßungen und Lebenslügen, aber in Wirklichkeit wird eine wilde Attacke gegen jederlei Anspruch auf normative Ethik und zuchtvolle Lebensführung geritten, eine "Irruption des Tartars" gewissermaßen. Wenn man "gegen 68" sein will, so wird suggeriert, dann muß man auch ein antimoralischer Sinnverächter sein, sonst handelt man "unwissenschaftlich", "vormodern", "antimedial".

Moralische Normen ins Spiel zu bringen, lehrt der Pop-Philosoph, sei dasselbe, wie sich jeglicher Lernbereitschaft zu verweigern. Moralisten kännten immer nur Trottel sein, Ignoranten, Klippschüler, "wer nach Moral ruft, ist nicht bereit, umzulernen". Die Moral sollte endlich durch "Kultur" ersetzt werden. Was aber versteht Bolz unter "Kultur"? "Die Entwicklungsgeschwindigkeit der multimedialen Welt". Daran also gelte es sich auszurichten. Derjenige sei der wahre Held unserer Zeit, der, statt nach Sinn und Moral zu suchen, vorbehaltlos jeden Schwenk der multimedialen Entwicklung mitmacht.

Begründet wird dergleichen nicht aus der Sache selbst, sondern lediglich durch den abschreckenden Blick auf das Treiben der zu Macht und Einfluß gekommenen 68er. Weil sie, die 68er, eine moralinsaure Diktatur der PC aufgerichtet hätten, weil sie, statt sich den "Komplexitäten" der modernen Welt zu stellen, immer nur kurzschlüssige Utopien und im übrigen Betroffenheitspathos, Hysterie und Weltuntergangsstimmung ins Spiel brächten, müsse nun endlich Schluß gemacht werden mit der Moral insgesamt.

Das Übel unserer Tage, resümiert Bolz, liege darin, daß die an sich so großartigen modernen Medien okkupiert seien durch die "Bedenkenträger" aus der 68er-Generation, durch "Randgruppenanwälte" und "Entrüstungspessimisten". Seien diese erst einmal eliminiert und in Pension geschickt, breche endlich das wahre Paradies der Neuzeit an: die voll verkabelte Multimedialität und Komplexität, wo es nicht mehr darauf ankommt, ob einer tugendhaft oder halunkenhaft operiert, sondern nur noch darauf, ob er an der Multimedialität teilnimmt, ob er sich "ans Netz anschließt".

Im Grunde unterscheidet sich diese Haltung um kein Jota von der der der Stalinisten, die die Moral bekanntlich durch den "Klassenstandpunkt" ersetzen. Wer sich den Klassenstandpunkt zu eigen macht, heißt es bei denen, der hat sich von der "bürgerlichen" Moral emanzipiert, der folgt nicht mehr der inneren Stimme des Gewissens, sondern nur noch den Anweisungen der Partei. Bei Bolz rücken "die Medien" an die Stelle der Partei. Auch was "in den Medien" passiert, ist für den einzelnen absolut verbindlich. Wenn er es wagen sollte, von sich aus aus dem Netz auszusteigen, setzt es sofort soziale ("kulturelle") Sanktionen, die sich letztlich ebenso schmerzhaft auswirken wie früher der Parteiausschluß.

Bei den Kommunisten (zumindest in der kommunistischen Belletristik) gab es manchmal wenigstens noch eine gewisse Erinnerung an die Moral, gleichsam nietzscheanische Eierschalen: Der im Parteiauftrag Handelnde geriet mitunter in gewisse Entscheidungsskrupel, wo die Stimme des Herzens sich gegen den Willen der Partei auflehnte. Er "läste" dann diesen Konflikt, indem er sich klar machte, daß er seine parteiaufgegebenen Schandtaten um des "Neuen, Besseren Menschen" willen beging, daraus zog er Trost und Willensstärke, "Humanitas". Davon ist bei Bolz nun allerdings nichts übrig geblieben.

Wer in der Schänen Neuen Medienwelt Skrupel bekommt, zum Beispiel wenn ihn der Showmaster auffordert, vor laufenden Kameras die Hosen herunterzulassen, der kann sich in keine heroischen Illusionen vom Neuen Menschen oder Übermenschen mehr flüchten, denn den gibt es laut Bolz ja gar nicht, es gibt nur noch "Komplexität", und zwar Komplexität, die man (Niklas Luhmann sei"s geklagt) nicht einmal mehr im Sinne eines bestimmten Systems reduzieren kann. Die Komplexität ist vielmehr identisch mit dem System, es gibt außerhalb ihrer nicht den geringsten Sinn, und folglich steht der, der die Hosen nur unter Zähneknirschen herunterläßt, nicht etwa als Held, sondern als besonders komischer Spaßgegenstand da.

Aber was soll"s, das nächste Mal ist ein anderer dran, der bekichert wird, und wenn man lange genug in schäner Komplexität gekichert hat, wird man gar nicht mehr merken, daß da irgendwas, Moral genannt oder auch Ehre, Tugend, Humanitas, den Bach hinuntergegangen ist. Hauptsache, es hat Spaß gemacht. Der "Spaß" ist das einzige Kriterium, das in der moralfreien Schänen Neuen multimedialen Welt zur Beurteilung von Verhalten noch übrigbleibt, so daß sich der Dekalog auf ein einziges Gebot zusammenziehen ließe: "Vermeide alles, was keinen Spaß macht!"

Wobei man natürlich aufpassen muß, daß man so selten wie mäglich selber zum Ausgangspunkt und Zielobjekt des Spaßes wird, daß man mäglichst immer in aller Bequemlichkeit auf der richtigen Seite, auf der Bank der Spätter, Platz nehmen kann. Das ist es wohl, was Bolz meint, wenn er in seinem Buch davon spricht, daß es nützlich sei, eine "Sensibilität für bäse Blicke" auszubilden. Auch in komplexen Zeiten ist es besser, wenn der andere die Torte in die Fresse bekommt.

Außerdem bleibt die Frage, ob die mediale Spaßgesellschaft die "Sinngesellschaft" wirklich so gründlich ersetzt hat, daß künftig immer nur Torten herumfliegen werden und nicht doch auch blaue Bohnen und noch schärfere Sachen. Der Mensch lebt nicht von Torten allein. Schon deshalb steht weiter eine normative Ethik auf der Tagesordnung, deren Begründung man selbstverständlich nicht den 68ern überlassen darf.


 
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