© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/97  13. Juni 1997

 
 
Porträt: Jean-Pierre Chevènement
Links und national
von Robert Schwarz

„Ein Minister hält seine Schnauze oder tritt zurück." Mit diesen Worten hat der neue französische Innenminister Chevènement, die interessanteste Persönlichkeit in Jospins Ministerriege, früher einmal die Disziplin umschrieben, der ein Mitglied des Kabinetts unterworfen ist. Er selbst hat die Karriere den eigenen Überzeugungen stets vorgezogen und bereits zweimal Regierungen vorzeitig verlassen. Das erste Mal als Industrieminister 1983 aus Protest gegen die liberale Wirtschaftspolitik seines damaligen Kollegen Jacques Delors. Acht Jahre später nahm Chevènement wiederum seinen Hut, diesmal als Verteidigungsminister – aus Protest gegen den Golfkrieg, der seiner Meinung nach von Anfang bis Ende von den Amerikanern manipuliert war.

Innerhalb der sozialistischen Partei stand er dem „Cérès", dem sehr einflußreichen Denkzirkel der „laizistischen, progressiven und nationalistischen sozialistischen Linken" vor. Obwohl immer auf der politischen Linken beheimatet, stand der Bürgermeister von Belfort stets für eine Symbiose von Sozialismus und Verteidigung der Nation. Wobei die Vorstellung Chevènements von der Nation, diejenige der jakobinischen Staatsnation ist.

Den endgültigen Bruch mit der Sozialistischen Partei vollzog der heutige Parteichef der kleinen „Mouvement des Citoyens" (Bürgerbewegung) auch wegen des Vertrages von Maastricht. Daß ihm unter diesen Voraussetzungen Jospin nicht das Amt des Außenminister zuwies, leuchtet ein.
Chevènement, ein erklärter Anti-Amerikanist, unterhält beste Kontakte in die arabische Welt. Auch und gerade zu jenen Staaten, die der internationalen Ächtung anheimgefallen sind, weil sie den Interessen des Weißen Hauses im Wege stehen. Den deutschen Nachbarn kennt der 58jährige Politiker gut. Seit seiner Jugend beschäftigt er sich mit deutscher Geschichte. Chevènement, der ein Diplom in Deutsch der Wiener Universität vorweisen kann, arbeitete bereits in seiner Abschlußarbeit an der berühmten Pariser politikwissenschaftlichen Fakultät über ein deutsch-französisches Thema: „Die Haltung der nationalistischen Rechten gegenüber Deutschland".
Die Erwartungen an die Amtsführung des erfahrenen Minister sind hoch. Die schwierige Strukturreform der Polizei muß zu Ende gebracht werden. Die Geheimdienste harren einer Neuordnung. Darüber hinaus soll er ein Gesetz gegen die illegale Einwanderung erarbeiten, das jene von der Linken so heftig befehdeten Regelwerke seiner Vorgänger Pasqua und Debré ersetzt. Viele politische Freunde und Verbündete sehen in ihm einen effizienten Widerpart gegen den weiteren Aufstieg des Front National. Ob ihm das alles gelingt, ist fraglich. Eine entscheidende Stärke, die man bei der deutschen Linken heute vergeblich sucht, hat er allerdings vorzuweisen: Die Liebe zur eigenen Nation.


 
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