© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/97  13. Juni 1997

 
 
"Sinn und Form" 3/97: Ein Querschnitt durch die Zeit
Am Ende des Überflusses
von Thorsten Hinz

Die Zusammenstellung des aktuellen Heftes von Sinn und Form, der Zeitschrift der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg (siehe JF 21/97), erscheint auf den ersten Blick heterogen, ja zufällig. Die wichtigsten Autoren sind Vladimir Jankélévitch (1903–1985), der von 1951 bis 1978 Professor für Moralphilosophie an der Sorbonne war; Rüdiger Safranski, der zuletzt mit dem Heidegger-Buch „Ein Meister aus Deutschland" für Aufsehen sorgte; Joachim Fest, bis 1993 Mitherausgeber der FAZ; der polnische Philosoph Ryszard Legutko, der vor 1989 Chefredakteur einer kulturpolitischen Untergrundzeitschrift war und heute als Professor für Philosophie an der Krakauer Universität tätig ist, sowie der Schriftsteller Hartmut Lange, der kürzlich seinen 60. Geburtstag beging. Die Texte sind zum Teil schon vor Jahren anderswo gedruckt worden, aber durch die Zusammenstellung ergibt sich eine brennende Aktualität.

Jankélévitch äußert sich zum hybriden Thema „Tod und Leben". Ein Ausgangpunkt ist die Verdrängung des Gedankens an das eigene Ende. Das führe zum Wunsch, die Gegenwart zu prolongieren und die Zukunft auszublenden, denn: „Die Sorge um die Zukunft drückt letzten Endes die zukünftige Gegenwart des Todes aus, denn der Tod ist ja die äußerste, allerletzte Zukunft. Die Sorge um die geheime Tiefe gibt im äußersten Grenzbereich die abwesende und unsichtbare Gegenwart des Todes wieder, denn der Tod ist ja in unserem tiefsten Wesengrund das am sorgfältigsten gehütete Geheimnis." Dieses Übel hat laut Safranski eine Wurzel im 19. Jahrhundert, als utopische Hoffnungen und wissenschaftlicher Anspruch Hand in Hand gingen: „Man wollte die Gesellschaft seligen Zeiten entgegenführen. Die Entfremdung sollte überwunden werden und der Mensch in den Vollbesitz seiner positiven Wesenskräfte gelangen. Poesie und Philosophie sollten dabei helfen."

Zwar habe der Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen solche Utopien als kohärente, sinnstiftende und praktikable Visionen widerlegt, meint Joachim Fest, aber damit sei dem Westen auch der Feind genommen worden. Jetzt stelle sich die Frage nach den eigenen „ethischen und sinnstiftenden Vorgaben". Statt freiheitlich-demokratischen Furor sieht er Konsumismus und den – utopischen – Wunsch nach Rundumversorgung Triumphe feiern, was dazu führe, daß „ein von Bürokratie, Besitzstandsdenken und ideologisierten Interessen zusehends blockierter Staat die Fähigkeit (verliert), mit den Problemen der inneren Sicherheit, den sozialstaatlichen Egoismen, dem Modernisierungsdruck von vielen Seiten und mit all dem ungestümen Reformbedarf, der sich angestaut hat, zurechtzukommen". Über Wohl und Wehe der demokratischen Einrichtungen entschiede die Erfüllung der „mit moralischem Gestus unterbaute Forderung auf Bedienung oder Absicherung des persönlichsten Konsum- und Vergnügungungsverlangens". So bestünde die Gefahr, daß der Bestand der Demokratie direkt vom Wohlstand abhängig sei.

Ryszard Legutko geht in „Die Gesellschaft als Kaufhaus" noch weiter. Er sieht im Westen – die Entfernung schärft den Blick – neben dem Wunsch nach einem materiellen auch den nach einem moralischem Vollkasko-System am Werk. Es gebe die Angst, Entscheidungen zu treffen, die wiederum aus der Furcht vor Schmerzen resultiere. „Entscheidungen sind gewöhnlich schmerzhaft, aber ohne Entscheidungen zu leben ist unmöglich." Er sieht in einem gegenwärtigen „liberalen Utopismus" die Negierung dieser Einsicht. Er versuche den Anspruch zu verwirklichen, „daß man ein System errichten oder zumindest ins Auge fassen kann, in dem die Menschen nicht gezwungen werden, sich für etwas zu entscheiden, was sie nicht wollen, weil es immer Werte und Ideale gibt, die nur ihrem Trachten und Streben entsprechen. Dieses Ideal setzt eine Welt des Überflusses voraus, wo keine Opfer notwendig sind und keine Enttäuschung auf die Menschen warten." Botho Strauß nannte das: Moralisch über seine Verhältnisse leben, was in einer Zeit, in der der Überfluß passé ist, fatale Auswirkungen hat. Das Zurückschrecken beispielsweise vor Subventionsstreichungen wegen der damit verbundenen Proteste der Betroffenen oder die – unter anderem aus nachvollziehbaren Skrupeln, gewiß!, resultierende – Unfähigkeit, den Kreis derer genau zu umreißen, die Anspruch auf Zuwendungen aus den deutschen Sozialkassen haben, bringen gerade das Wirtschafts- und Sozialsystem in Deutschland zum Bersten.

Was also ist zu tun? Legutko glaubt immerhin nicht, daß es nur die Wahl gebe zwischen totalitärer Diktatur und „einem libertären Minimalstaat mit steriler Moral und Kultur". Joachim Fest fordert im Sinne Hannah Arendts, das Wagnis der „schwierigen Freiheit" anzunehmen. Folgt man Safranksis „Die Kunst, das Böse und das Nichts", dann müßte ein Maquis de Sade als eine Schlüssel- und unverzichtbare Komplementärfigur zum Verständnis der modernen Zeit in das Denken integriert werden, so wie eine künstlerische Avantgarde, zu denen Gautier, Flaubert oder Baudelaire zählten, das bereits im optimistischen 19. Jahrhundert praktizierte. Um nicht sich die Gegenwart und die Eigenvorsorge zum allgemeinen Maßstab zu machen, müsse laut Jankélévitch zunächst der eigene Tod mitgedacht werden: „Der zum Tod des eigenen Lebens bekehrte Lebende verbringt die Zeit nicht anders als der Unbekehrte; seine Angelegenheiten unterscheiden sich nicht von denen der anderen, und seine Beschäftigungen auch nicht: Aber das, was sein Werden akzentuiert und erhellt, hat sich grundsätzlich gewandelt." Das sind, zugegeben, zum Teil Allgemeinplätze, aber auch Fingerzeige für ein politisch relevantes Handeln.

Überaus erhellend in dieser Hinsicht sind die abgedruckten fünf Poetikvorlesungen, die Hartmut Lange im Wintersemester 1996/97 an der Universität-Gesamthochschule Paderborn gehalten hat. Der 1937 in Polen geborene Lange machte seinen Schulabschluß in der DDR und galt dort als ein hoffnungsvoller junger Mann. Aus Widerwillen gegenüber der Staatsideologie ging er in den Westen, wo er ebenfalls auf Distanz gegenüber einfachen Wahrheiten blieb. Seine Texte unterscheiden sich diametral von der Bagatellisierungsprosa, die nach zwei deutschen Diktaturen über die Nachwelt gekommen ist. Er zählt vier Etappen der eigenen Bewußtwerdung auf: Die erste umfaßte die „naive Vorstellungswelt" des Kindes. Dann folgte die „Entdeckung der tatsächlichen Welt", in der sein „soziales Gewissen" erwachte. Dann die „Entdeckung des Selbst", die „ohne Schmerzen nicht zu haben" sei, durch ein „pascalsches Erschrecken", das bewußte Erleben einer „existentiellen Angst". Schließlich die „Neuentdeckung der tatsächlichen Welt in der Vorstellungswelt", in der „soziales Gewissen und Transzendenzbedürfnis" zusammenfinden: „Wo die Erfahrung des Gesellschaftspolitischen fehlt oder nicht mit eingebracht wird, fehlt das soziale Gewissen, vor dem jede existentielle Bedürftigkeit zur metaphysischen Jammerei ausartet. Fehlt die existentielle Erfahrung, beginnt die soziale Frömmelei."

„Sinn und Form", Heft 3/97, Aufbau-Verlag, Berlin 1997, 12,50 DM


 
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