© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/97  05. Juni 1997

 
 
Wolfgang Venohr: Erinnerungen an eine Jugend
Verführte Treue
Rezension
von Georg Willig

In einer Nachbemerkung zu diesem Buch erinnert sich Venohr mit zwei Sätzen an einen damals zwanzigjährigen Mitschüler. "Ben Fahle fiel im März 1945 als Leutnant und Kompanieführer in der 8. Panzer-Aufklärungsabteilung bei der Verteidigung Niederschlesiens. ’Los, kommt doch ran’, rief er den Bolschewisten lachend zu, bevor ihn die Kugel eines Scharfschützen traf." Die Szene scheint einem Landserroman entnommen zu sein. Dennoch rührt sie an und wirft die Frage auf, wie ein solcher Geisteszustand bei einem großen Teil der damaligen deutschen Jugend hat entstehen können, diese Mischung aus Gläubigkeit, Überlegenheitsgefühl und naivem Idealismus.
Venohr will auf diese Frage nicht noch eine weitere Antwort geben. Dieses Buch des Historikers Venohr ist kein Geschichtswerk. Es enthält nichts weiter als die naiven Eindrücke und Gedanken eines geistig regen Knaben, der, geboren 1925, die Jahre zwischen 1932 und 1940 in Deutschland und im besetzten Polen mit erstaunlicher Wachheit erlebt hat.

Preußischer Patriotismus, der sich gegen das "Diktat von Versailles" empört, aber auch sozialistische Überzeugungen und das Streben nach weiteren geistigen Horizonten bestimmen die Atmosphäre der Familie aus drei Generationen, die aus Handwerkern, Soldaten und mittleren Angestellten besteht. Die Parolen der Nationalsozialisten wie "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" und die Vision eines neuen Staates als einem "Reich der Liebe, Kameradschaft und Harmonie" fanden Zustimmung und Begeisterung, wenn auch nicht immer ohne Widerspruch von Seiten der Sozialisten in der Familie. Schon 1927 wurde der Vater Nationalsozialist. Der Knabe erlebte die Jahre von 1936 bis 1939 "in einem einzigen Rausch". "Die Kette der dramatischen, begeisternden Ereignisse riß nicht ab. Im Sommer 1936 feierte Berlin in einer Woge der Hochstimmung die XI. Olympischen Sommerspiele."

Als der Vater im März nach Polen versetzt wurde, war der nun Fünfzehnjährige ein mittlerer Hitler-Jugend-Führer, dem "die Fahne heilig ist, mehr ist als der Tod". Sie ist "ein Symbol unseres Jugendtraumes vom neuen strahlenden Reich der Brüderlichkeit und Kameradschaft".
Auf einem Jugendmarsch von Posen nach Kutno im August 1940 ergibt sich eine Situation, in der er anders reagiert als alle anderen, aber so, wie es seinem Glauben an die Fahne entspricht. Er will die Fahne nicht mehr weitertragen, nachdem er gesehen hatte, wie am Straßengraben stehende Polen die vorbeigetragenen Fahnen nicht gegrüßt hatten und deshalb von Schlägertrupps niedergeschlagen wurden. Er wird "mit Schimpf und Schande" aus der Hitler-Jugend ausgestoßen. Aber sein Traum vom "Reich der Brüderlichkeit und der Volksgemeinschaft, vom Reich der Gerechtigkeit und Anständigkeit" will er sich nicht nehmen lassen.

Venohr besitzt trotz seiner "Erziehung" das, was man "Zivilcourage" nennt. Das bewies er auch später, als er gegen den in der Bundesrepublik herrschenden Mainstream nicht davon abließ, an ein ganzes Deutschland zu glauben und 1982 (!) den Band "Die deutsche Einheit kommt bestimmt" herausgab.

Wolfgang Venohr: Erinnerungen an eine Jugend, Herbig Verlag, München 1997, 235 Seiten, geb., 39,90 Mark


 
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