© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/97  30. Mai 1997

 
 
Verbrechen: Wie Opferzahlen manipuliert werden
Geschichtsklitterung
Meinungsbeitrag
von Jochen Arp

Als beim diesjährigen Pfingsttreffen der Ostpreußen in Düsseldorf der Bundespostminister Wolfgang Bötsch (CSU) in seinem Referat zurückblickte auf die Zeit, als die Rote Armee in Ostpreußen einrückte, da erwähnte er, daß im Winter 1944/45 "Zehntausende Ihrer Landsleute nach Westen flüchteten". Und dann noch einmal: "Zehntausende von Deutschen" seien in der Endphase des Krieges und in den Jahren nach dem Krieg Opfer von Gewalt geworden.

Bundesminister Bötsch wurde bereits im Vorfeld darauf hingewiesen, daß in beiden Fällen die Behauptung, "Zehntausende seien Opfer von Gewalt geworden", nichts anderes sei als eine Verniedlichung und Verharmlosung von Verbrechen, waren es doch nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2,23 Millionen Todesopfer von Flucht und Vertreibung, darunter allein 299.000 Ostpreußen. Wolfgang Bötsch kümmerte sich nicht darum, sondern ließ in seinem Redemanuskript die Falschbehauptung stehen. Man stelle sich vor, vor einer Versammlung überlebender Juden hätte derselbe Minister behauptet, im Rahmen der Judenverfolgung seien "Zehntausende" von Juden Opfer von Gewalt geworden. Ein Aufschrei wäre durch die Welt gegangen – und das zu Recht!

Der Versuch der Geschichtsklitterung durch den Minister ist kein Ausrutscher. Überall begegnet man den Versuchen, deutsche Opfer, wenn schon nicht wegzuretuschieren, so doch kleinzurechnen. Jahrzehntelang schwankten die Angaben über die Zahlen der Bombenopfer in Dresden zwischen 300.000 (so der US-amerikanische Historiker de Zayas unter Berufung auf Angaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz) und 35.000 identifizierten Toten und einer unbekannten Zahl von nicht Identifizierbarer (so noch 1988 der SED-Oberbürgermeister von Dresden, Wolfgang Berghofer). Da verblüffte es, daß die Landeshauptstadt Dresden unter ihrem CDU-Oberbürgermeister Wagner 1995 verbreiten ließ, es seien nicht mehr als 25.000 Menschen umgekommen.

An einer norddeutschen Universität schilderte in diesen Tagen in einer zweistündigen Vorlesung ein Geschichtsprofessor in aller Breite tatsächliche und behauptete deutsche Kriegsverbrechen in der Sowjetunion, dabei längst widerlegte und völlig unglaubhafte sowjetische Propagandabehauptungen aus der Zeit von 1941 bis 1989 unkritisch wiederholend und die von Deutschen verursachten Totenzahlen ins Astronomische steigernd. In einer späteren Vorlesung teilte er mehr als Randbemerkung mit, daß es auch auf sowjetischer Seite hier und da Kriegsverbrechen gegeben habe. So hätten "nach neuester Forschung" die Sowjets einmal 80 deutsche Kriegsgefangene erschossen; er fügte hinzu, das sei aber gegen ausdrückliche Befehle der Vorgesetzten ge- schehen.

Es sei zugegeben, daß die exakte Zahl der Dresdner Luftkriegsopfer heute schwer zu ermitteln ist. Auffallend ist jedoch, daß sie jetzt auf das niedrigste Niveau herutermanipuliert wurde. Bundesminister Wolfgang Bötsch jedoch handelte entgegen besserem Wissen; er wußte, daß seine Zahlen von Vertreibungsopfern grundlegend falsch waren. Und auch der Geschichtsprofessor hätte wissen müssen, wenn ihm wirklich an einer Aufhellung historischer Tatsachen gelegen wäre, daß viele der sowjetischen Behauptungen unsinnig und nichts als Waffen im Psycho-Krieg waren. Und er kannte auch mit Gewißheit die Literatur, in der belegt wurde, daß nicht nur 80 deutsche Kriegsgefangene umgebracht worden sind, sondern daß von den in den Jahren 1941/42 in sowjetische Hand gefallenen deutschen Soldaten nicht mehr als fünf Prozent überlebt haben, im Jahre 1943 nur dreißig Prozent.

So nimmt man in Deutschland Fakten nicht zur Kenntnis und verharrt in einer selbstverschuldeten Unwissenheit, um die Deutschen zu einem Nur-Tätervolk zu stilisieren. Es ist die Rückseite der Medaille, deren Vorderseite von Daniel Goldhagen und Jan Philipp Reemtsma geprägt wurde; hier eine maßlose Aufbauschung deutscher Kriegsverbrechen – dort eine Verniedlichung deutscher Opfer. Und Hand in Hand geht damit die Rechtfertigung der Verbrechen der Sieger, während die Aufklärung solcher Verbrechen mit dem Hinweis, es handele sich um "Aufrechnung", unterdrückt wird.

Wie ist eine solche Erscheinung, die es nur in Deutschland gibt, erklärbar? Glaubt man, durch devotes Verhalten das Wohlwollen des Auslandes zu gewinnen? Ist es die den Deutschen gelegentlich attestierte Eigenart, sich nur in Extremen wohlzufühlen, und sei es im Extrem, das mieseste aller Völker zu sein? Will man sich selbst vor dem Hintergrund bösartiger Vorfahren umso strahlender darstellen? Was es auch an Erklärungen geben mag: das Verhalten vieler Deutscher ist Ausfluß einer Psychose, die schlimmere Folgen haben kann als fehlende Arbeitsplätze, chaotische Rentenregelungen und gähnende Finanzlöcher. Es macht die Deutschen zu einem unberechenbaren Volk, das zunehmend von Teilen des Auslandes mißtrauisch betrachtet wird, weil sein Verhalten unverständlich ist.


 
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