© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/97  30. Mai 1997

 
 
Pankraz, H. Ibsen und das Geheimnis der stillen Reserven
von Günter Zehm

Die verzweifelten Bocksprünge der deutschen Finanzpolitik im Zeichen pünktlicher Maastricht-Kriterien-Erfüllerei treffen jetzt auch die "inneren, stillen Reserven" der Nation, das meint: den Goldschatz der Bundesbank, der, wie es so schön heißt, "neubewertet" werden soll, um so den Haushalt zu frisieren. Das ist im Grunde noch schlimmer als jene "kreative Buchführung", die Bonn bisher so gern den anderen EU-Ländern zum Vorwurf machte, es ist pure Gangsterei. Oder, um eine Bild von Alfred Jarry zu bemühen: Es ist, als würde man einen Radfahrer, der auch gern mal zu Fuß geht, kurzerhand schlachten, nur damit man mit seinem Körperfett die Fahrradkette schmieren kann. Die "inneren, stillen Reserven" stehen seit einiger Zeit aber auch anderswo zur Disposition, sind gewissermaßen weltweit ins Visier einer neuen Art von Gangstern geraten, deren Methode eben in der Ausspähung und Aneignung solcher Reserven besteht.

"Analysten" verschaffen sich Einblick in die Struktur von Wirtschaftsunternehmen, und sobald sie feststellen, daß eines dieser Unternehmen "unterbewertet" sei (indem es also über innere, stille Reserven, etwa über rentable Immobilien oder blühende kleine Tochterunternehmen verfügt), beginnt der Coup. Man verschafft sich auf Kredit Geld und Aktien, kauft das Unternehmen zu scheinbar fairem Preis auf – und weidet es dann regelrecht aus, d. h. man verscherbelt die inneren, stillen Reserven. Gegen das bürgerliche Gesetz wird dabei nicht verstoßen, und es finden sich sogar Stimmen, die den Vorgang bejubeln. Das Ansammeln von inneren, stillen Reserven, heißt es, entspringe einem atavistischen, vormodernen Instinkt, sei primitive, aus der Mangelwirtschaft überkommene "Schatzbildnerei". Heute komme es darauf an, auch noch die allerletzten Reserven ans Licht zu zerren und dem Säurebad der Profitmacherei auszusetzen, und wer das nicht einsehe, dem geschehe letztlich ganz recht, wenn er "unfreundlich übernommen" werde. Fiat pecunia, pereat mundus!

Man sollte sich indessen nicht täuschen lassen: Die modischen Polemiken gegen innere, stille Reserven sind von Übel, führen letztlich zu bösen Häusern. Es ist nicht nur gut, eine stille Reserve zu haben, es ist sogar notwendig, und zwar in allen Bezirken des Lebens, von der Wirtschaft bis zum Seelenhaushalt, von der Biologie bis zur Schuhputzerei. "Man muß in allen Dingen stets etwas in Reserve haben", sagt Balthasar Gracián in seinem berühmten "Handorakel", "nur dann kann man im Leben mitspielen". Das ist definitiv nicht zu widerlegen.

Bei den Tieren im Kampf zwischen Jägern und Gejagten wird die letzte, wahrhaft stille Reserve nur in aller-, allerhöchster Todesnot mobilisiert, bei den Menschen nicht mal dann immer. Die Deutschen im Zweiten Weltkrieg kämpften nach Ansicht vieler einen Todeskampf, aber nach der Niederlage waren noch so viele (materielle und auch mentale) Reserven da, daß nicht nur die Sieger üppig abräumen konnten, sondern anschließend von den Besiegten auch noch das Wirtschaftswunder auf den Weg gebracht wurde, ein eindrucksvoller Wiederaufstieg.

Selbstverständlich gilt es stets, möglichst genau abzuwägen zwischen wirklich notwendiger Reserve und überflüssigem Fettpolster. Wir leben bekanntlich im Zeitalter der Versicherungen, wo man faktisch gegen alles eine Police erwerben kann. Viele Fonds und Versicherungsgesellschaften sind zu phantastischer Höhe und Macht angeschwollen, und mit der "Stille" ihrer Reserven ist es nicht mehr weit her. Laut und ungeniert spielen sie ihrerseits immer öfter auf der Seite der unfreundlichen Ausweider und Reservenzerstörer mit. Ihr riesiger Kapitaleinsatz ist schon vielerorts zu einem Störfaktor und zu einer Gefahr für manche Volkswirtschaft geworden.

Dennoch, gerade das Versicherungs-, Renten- und Rücklagen-Gewerbe zeigt sich nach wie vor außerordentlich empfindlich gegenüber Verlusten und Angriffen auf seine Grundbestände. Als sich seinerzeit der britische Medienzar Robert Maxwell verspekuliert hatte und Rettung suchte, indem er in die Pensionsfonds seiner eigenen Unternehmen griff, sammelte sich über ihm ein derart mächtiges Gewitter aus Zorn und Verachtung, daß ihm als Ausweg nur noch der (als Unfall maskierte) Selbstmord blieb. Sobald es um die wirklich stillen, natur- und existenznotwendigen Reserven geht, hört jede Gemütlichkeit auf. Es ist mit ihnen wie mit echten Freundschaften: Je weniger sie strapaziert, je weniger sie auf die Probe gestellt werden, umso besser funktionieren sie. Das bloße Wissen um ihr Vorhandensein erfrischt bereits, stabilisiert das Leben. Nichts wäre verhängnisvoller und belastender als ein öffentliches Gerede über ihren "wirklichen Wert", über eine "Neubewertung".

Finanzpolitik, hört man oft, sei "die pure Psychologie". Insofern ist das derzeitige Bonner Gerede über eine "Neubewertung" der Goldreserven des Bundes zum Zwecke der Haushaltsverbesserung und Kriterienerfüllung nichts weiter als miserable Psychologie. Es "löst Panik aus", wie Professor Pohl vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle maliziös anmerkte, es erzeugt Endzeitstimmung und führt, statt zu einer Unterbewertung, eher zu einer Überbewertung der vorhandenen Re- serven.

Über stille Reserven spricht man nicht. Wenn man sie wirklich braucht, hat man gar keine Zeit mehr dazu; der Körper mobilisiert sie automatisch, und nur so können sie ihre Wirkkraft entfalten. Andernfalls geht es einem wie jenem Doktor Brendel in dem Ibsenstück "Rosmersholm", der sich dauernd rühmt, er habe an Schöpferkräften noch eine schöne Zuckertüte in Reserve – und der, als er die Tüte dann eines Tages ausschütten will, feststellen muß, daß sie schon lange leer ist.


 
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