© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/97  23. Mai 1997

 
 
Das Zeitalter der ethnischen Konflikte
JF

Eine der Folgen nach der Auflösung der Welt in zwei politische Pole ist das unerwartete Aufleben des schon tot geglaubten Begriffes "Ethnizität" – die Wiederkehr der Identität der Völker. Vor allem gefürchtet wegen seiner oft zur staatlichen Desintegration führenden Kräfte, wurden die ersten Zeichen des sich anbahnenden Umschwungs von vielen als Unheil gedeutet. Schon 1989, als die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion zurückgewannen, wurde klar, daß die Ethnizität zurückkehrte. Die folgende Zersplitterung Jugoslawiens schien den Anhängern des "Globalen Dorfes" die Gefahren des als Nationalismus verpönten kollektiven Selbstbewußtseins als destruktive Macht zu bestätigen. Es ist üblich geworden, die Ethnizität als Ursache für die neuen Krisenherde zu sehen. Doch scheint hier eine Verwechslung von Ursache und Symptom vorzuliegen.

Sogenannte Experten halten sich an ihre vertrauten ideologischen Kategorisierungen, wodurch zunächst einmal die ihnen gewohnte Situation von "rechts" und "links" wiederhergestellt wird. Demnach werden Minderheiten, die ihr kollektives Freiheitsstreben oft gegen Zentralregierungen verteidigen, fast immer in die rechte Schublade gesteckt. Im englischen Sprachraum ist die Forschung mit dem Phänomen durchaus vertraut, daß im ideologisch neutralen Streben nach ethno-kultureller Identität oft auch Linke in vorderster Reihe stehen können. Im deutschen Sprachraum scheint man dafür bislang noch wenig Verständnis aufbringen zu können, da die mit der Vergangenheit verbundenen Hemmungen noch immer einer offenen Debatte im Wege stehen. Auch sogenannte Weltbürger haben sich oft mehr mit den Zielen als mit den Wirkungen ihrer Überzeugungen auseinandergesetzt. Viele leisten sich den Luxus, über Utopia zu philosophieren, während sich im eigenen Land die Konflikte der zukünftigen Generation schon heute zusammenbrauen.

Ethnizität hat bestimmte Eigenschaften: Sie ist zunächst selbstdefinierend: Alle akademische Akrobatik der Klassifizierung und Kategorisierung hat bislang zu keinen festen und unumstößlichen Kriterien geführt. Nur ein Tschetschene weiß, warum Tschetschenien es wert ist, sein Leben dafür aufs Spiel zu setzen. Keinesfalls läßt sie sich allein geopolitisch bestimmen, nach dem Motto: Wir sind jetzt alle Sowjetbürger. Ethnizität ist dauerhaft und übersteht Vertreibung und Völkerwanderungen. Nur Völkermord und freiwillige Assimilation in eine neue Identität, beispielsweise als Amerikaner, Australier, Bure usw. können eine ethnisch-kulturelle Identität beenden.

Ethnizität wehrt sich gegen Assimilation an andere Gruppen, die nicht ein Minimum an vergleichbaren Wertesystemen mitbringen. So hat die ethnische Zusammensetzung der Buren in Südafrika aus jeweils 40 Prozent Deutschen, 30 % Holländern und 30 Prozent Franzosen eine eine weitere nennenswerte Einbindung der englischsprachigen europäischen Bevölkerung verhindert, obwohl die Apartheids-Regierung mit allen Mitteln eine "weiße Solidarität" gefördert hat. Erfolgreiche Assimilation beruht somit auf einem freiwilligen Entschluß und kann nicht künstlich zustande gebracht werden. Je größer die ethnisch-kulturellen Unterschiede zwischen den Gruppen, desto größer der Widerstand gegen Assimilation und dementsprechend höher ist dann das Konfliktpotential. Die USA stehen zur Zeit vor großen Integrationsschwierigkeiten mit Wirtschaftsflüchtlingen aus Lateinamerika und anderen Drittweltländern. Sie in die Gesellschaft zu integrieren, stößt auf weit größere Probleme und Widerstände als bei Immigranten aus den klassischen Einwanderungsländern. Es ist somit auch fraglich, ob etwa in Deutschland zwei Millionen Türken auf Dauer ebenso integriert werden könnten wie zwei Millionen Rußlanddeutsche. In einer Generation werden wohl die meisten Probleme bei den Rußlanddeutschen überbrückt worden sein. Die türkische Minderheit dagegen empfindet eine Identitätskrise und schottet sich zum größten Teil ab. Bei ihnen wirkt die Kluft zwischen den verschiedenen Zivilisationen durch die sozio-kulturellen und die religiösen Faktoren als im wesentlichen unüber- brückbar.

Ethnizität gedeiht in einem Klima des Mißverständnisses, in dem durch oft wohlmeinende integrationsfreudige Menschen Symptome und Ursachen ethnischen Konfliktpotentials verwechselt werden. So wird beispielsweise die Schuld am Jugoslawien-Krieg stets dem Prügelknaben "Nationalismus" zugeschoben, obwohl dieser in Wirklichkeit nur sein Symptom war. Aggressive Expansionspolitik oder auch Raub-Nationalismus à la Ostpolitik des Nazi-Regimes während des Zweiten Weltkrieges spielte in den ethnischen Konflikten seit Ende des Kalten Krieges eine kaum nennenswerte Rolle. Vielmehr handelte es sich um Selbsterhaltungsnationalismus der ethnischen Art, deren Hauptmotiv nicht die Dominanz über andere Länder, sondern schlicht die Unabhängigkeit war. Allerdings führen Mißverständnisse auf diesem Gebiet oft zu Fehlentscheidungen, die das Konfliktpotential nicht verringern, sondern in sich selbst konfliktfördernd sind.

Ein solches Mißverständnis ist die Behauptung, Ethnizität sei eine "rechte Ideologie". Sowohl Kommunisten als auch National-Sozialisten und Faschisten haben Ethnizität nie verstanden und energisch bekämpft. Alle drei sahen zum ersten die Loyalität zum Staat durch Ethnizität bedroht. Zum zweiten waren sowohl Nationalsozialisten als auch Kommunisten internationale Bewegungen. Die einen strebten einen rassenbasierten Internationalismus an, die anderen einen klassenbasierten. Beide politischen Systeme mußten scheitern, weil ihnen das Verständnis für Ethnizität fehlte. Weder Rassen- noch Klassensolidarität ist mit Ethnizität vereinbar. Wohl kaum ein Tschetschene würde sich auf einen Panzer werfen für eine Rasse oder wegen des sozial unterschiedlichen Status’ der russischen Besatzer. Wo Rassen eine Rolle spielen, ist dies meist zufällig und meist an den Rändern der, wie der amerikanische Politologe Samuel Huntington es nennt, "Zivilisationsspalten", wo ethnisch-kulturelle Unterschiede auch durch sichtbare Rassenunterschiede verstärkt werden können.

Ein weiteres Mißverständnis ist der Gedanke, daß zunehmende Kontakte zwischen ethnisch-kulturellen Gruppen automatisch zu besserem Verständnis der jeweils anderen Kultur führen, etwa dadurch, daß Menschen entdecken, wieviel Eigenschaften ihnen doch gemeinsam sind. Es blieb lange unbemerkt, daß eine Zunahme von künstlich hergestellten Kontakten Menschen auch zeigte,wie stark sie sich voneinander unterschieden. So ist das Konfliktpotential zwischen Gruppen wie Québecois und Anglo-Kanadiern eher gestiegen als gesunken.

Ein gefährliches Mißverständnis ist es schließlich, daß Globalisierung jegliche ethnische Identität auf die Dauer überflüssig macht. Hier wird das Paradoxon der Staatsbildungen und der gleichzeitig stattfindenden wirtschaftlichen Globalisierung mißverstanden. Denn trotz Globalisierung und der damit zusammenhängenden Einschränkungen der Souveränität von Staaten werden Volkswirtschaften das kulturell bedingte Leistungsdenken ihrer Bevölkerung wohl kaum außer acht lassen können, deren Wettbewerbsfähigkeit durch die Homogenität ihrer Arbeitskräfte und die Stabilität des Wirtschaftsstandortes bestimmt werden.

Ein gesundes kollektives Selbstbewußtsein innerhalb der ethnisch-kulturellen Gruppe wird inzwischen unter vielen Entwicklungs- und Verhaltensforschern im englischen Sprachraum als ausschlaggebend angesehen. Dies bestimmt nicht nur das Tempo, sondern auch die Richtung der Entwicklung der Völker. Völker haben, wie einzelne Menschen, ihre Launen und reagieren in bestimmten Situationen verschieden, je nach der kulturell bedingten Einstellung gegenüber dem Problem oder der Herausforderung. Völker haben bestimmte Einstellungen und einen ausgeprägten kulturellen Denkrahmen, der die Normen der Gesellschaft bestimmt, aber auch eine gewisse Flexibilität beinhaltet, die sich als zeitlich begrenzte Trends äußern.

Wichtig scheint jedoch die Tatsache, daß Völker oder ethnische Gruppen für sich selbst eine positive Zukunft vorstellen und einer solchen nachstreben. Die politischen Unterschiede innerhalb einer ethnisch-kulturellen Gruppe fördern den normalen Denkprozeß; weit links etwa mit der Forderung "Deutschland verrecke", was sich am Rande des Ethnosuizids befindet. Danach folgt das gutmeinende aber naive "Gewissen", das sich zur Zeit von links bis zur Mitte erstreckt und meist durch unentschlossenes und zögerndes Verhalten Probleme verursacht, die später durch andere wieder korrigiert werden müssen. Die Mitte schwankt zwischen dem Gutmenschen-Gewissen und dem mitte-rechts-orientierten "überlebensorientierten" Teil des Volkes, dessen politisches Interesse hauptsächlich der Selbsterhaltung des Volkes in seiner optimalen Form gewidmet ist. Weiter rechts befindet sich dann der Teil des Volkes, der sich dem Raubtier ähnlich verhalten kann, um die Interessen der Gruppe auch in andere Bereiche zu projizieren, ohne Rücksicht auf Fragen der Moral. Alle diese Teile des "Gehirns" sind wichtig und kein Volk besteht, ohne daß all diese Eigenschaften anwesend sind. Es ist Ethnizität und das damit zusammenhängende kollektive Selbstbewußtsein, das Sinn und Rückhalt einer Gesellschaft bestimmt und deren Mitglieder als Teil der Gruppe mitschleppt oder ausstößt. Einzelne werden sich immer von der Gruppe distanzieren, doch für die Mehrheit ist die ethnische Gruppe eine Art größere Familie, in deren Mitte man sich geborgen fühlt.

Der Materialismus und die Auflösung der Familie stellt an das "Herdentier Mensch" nie gekannte Herausforderungen. Er muß sich entscheiden zwischen Ethnosuizid oder einem Bekenntnis zu gemeinschaftlichen Werten wie Ehrlichkeit, Fleiß oder Pflicht. Wieder zu sagen: "Wir sind ein Volk", heißt auch Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe – mit dem Schwerpunkt beim Nächsten und erst danach beim Fremden.


 
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