© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Berliner Theatertreffen: "Kasimir und Karoline" von Ödön von Horváth
In Sehnsüchten und Illusionen
von Hans-Jörg von Jena

Das diesjährige Theatertreffen wurde mit Christoph Marthalers Hamburger Inszenierung von Ödön von Horváths "Kasimir und Karoline" im Schiller-Theater eröffnet. Gehört diese Aufführung überhaupt aufs Theatertreffen? Über die Auswahl wird man, wenn das Treffen vorbei ist, noch reden und rechten müssen. Hier aber kann die Frage vorab unbedingt bejaht werden. Was das Volksstück bedeutet, was es zu leisten, wieviel Glanz auf sich zu vereinen vermag, dafür bot die aktuelle Inszenierung dieses Klassikers ein Beispiel. Mathaler hat eine eigenwillige, hervorragende Arbeit zustandegebracht.

Ödön von Horváth hat sich das Genre des Volksstücks in den Jahren um 1930 zu eigen gemacht wie niemand sonst. Er wußte dem Volk aufs Maul zu schauen auf besondere Art. Seine Figuren können nicht reden. Sie sprechen Klischees, werfen mit Wortmüll um sich und vermischen ihn mit Naivitäten. Sie schweigen vor sich hin, nicht unwillig, nur unfähig zur Kommunikation. Aber dieses Schweigen ist, für den Zuhörer zumindest, beredt.

So bei Kasimir und Karoline, dem Liebespaar auf dem Münchner Oktoberfest. Kasimir ist übler Laune, weil er seine Arbeitsstelle verloren hat; Karoline hängt an ihm, möchte sich aber doch amüsieren. Das Ende ist Besäufnis, Resignation und Melancholie.

Vor Jahren gastierte schon einmal "Kasimir und Karoline" beim Theatertreffen, damals führte Hans Bollmann Regie. Die Personen schrieen sich an, als müßten sie den Lärm des Rummels übertönen. Marthaler geht den umgekehrten Weg. Bei ihm versackt der Dialog immer wieder, und der Rummel findet überhaupt nicht statt.

Ein Experte der Langsamkeit und der Zeichensetzung durch Musik und Geräusch, sucht der Schweizer Regisseur nach der Symbolik im Realismus. Eine U-Bahn rauscht im Untergrund, bläst hilflosen Mädchen die Röcke hoch und wirbelt sinnlos Papier durchs Gitter. Gesänge wie "Ich schieß’ den Hirsch im wilden Forst" oder "Solang der alte Peter" werden beziehungsreich plaziert. Vor allem aber: die Menschen bevölkern kein Open-air-Fest, sondern einen trostlosen Wartesaal und schauen durch Gucklöcher in ein Kaiserpanorama. Man sieht sie folglich oft von hinten, starr fixiert auf Bilder und die eigenen Illusionen. Marthaler übertreibt nicht; er veranschaulicht. Seine Darbietung läßt viel Zeit. Ein großartig besetztes Ensemble rund um das Unglückspaar (Josef Bierbichler, Olivia Rigolli) sorgt dafür, daß man erst in der letzten Stunde die Geduld strapaziert fühlt, weil die Lakonie des Schlusses etwas verfehlt wird.


 
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