© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/97  16. Mai 1997

 
 
Vertriebene: Es reicht nicht, nur die Vergangenheit zu verwalten
Im Osten viel Neues bewirken
von Alfred Theisen

In kaum einem Bereich der deutschen Politik klaffen Wort und Tat der Verantwortlichen so weit auseinander wie beim Umgang der Bundesregierung mit den Ost- und Sudetendeutschen. Da wird in Bundestagsentschließungen und vertriebenenpolitischen Reden die zentrale Rolle der Vertriebenen in der deutschen Ostpolitik betont, während im Alltag über die Köpfe und die Interessen der Betroffenen hinweg Politik gemacht wird. Da wird in wohlgesetzten Worten von der wachsenden Bedeutung der Brückenfunktion der Vertriebenen zu den östlichen Nachbarvölkern gesprochen, in der Praxis werden die Fundamente dieser Brücke zerstört, weil die öffentliche Förderung der landsmannschaftlichen Arbeit in Deutschland immer stärker reduziert und der Aufbau landsmannschaftlicher Strukturen in der Heimat – eines eigentlich unverzichtbaren zweiten Brückenpfeilers – bisher überhaupt nicht unterstützt wird. Da lobt man die deutschen Vertriebenen – so zum Beispiel immer wieder auch Bundeskanzler Helmut Kohl –, weil sie sich bereits 1950 in der Stuttgarter Charta zum europäischen Weg und zu europäischen Werten bekannt haben, und billigt gleichzeitig den heutigen russischen, polnischen oder tschechischen Nationalismus in den Heimatgebieten der Ost- und Sudetendeutschen, für die man – ob in Königsberg oder Breslau – eben keine europäische, sondern zur Freude der Vertreiberstaaten halt eben eine rein russische, eine rein tschechische oder rein polnische Lösung anstrebt.

Dann hört man immer wieder, wie jüngst zum Beispiel vom schlesischen Kardinal Meisner in Köln, es wolle ja sowieso niemand zurück. Gleichzeitig strömen die Vertriebenen Jahr für Jahr zu Hunderttausenden in ungebrochener Liebe und Sehnsucht über Oder und Neiße in die vertraute Umgebung ihrer Heimat, ohne jedoch über den auch vom Bundespräsidenten akzeptierten Status des "Heimwehtouristen" hinauszugelangen. Dabei machen leider manche Verantwortungsträger aus dem landsmannschaftlichen Bereich keine gute Figur, weil sie sich vor lauter Versöhnungseifer den heutigen Machthabern in ihrer Heimat zu sehr anbiedern und die eigene Würde, die vielbeschworenen europäischen Werte und berechtigte nationale Interessen aus den Augen verlieren. Da tauchen in manchen Berichten über Spendengelder, Geschenke und Hilfsgüter für die heutigen Bewohner dann auf einmal nur noch die kaum aussprechbaren fremden Ortsnamen auf, während das Entgegenkommen der anderen Seite sich meist in privaten Freundlichkeiten erschöpft.

Allzuoft hat man den Eindruck, daß der Dialog nur um des Dialoges willen geführt wird. Führende Repräsentanten der Landsmannschaften werden mitunter in den Medien der östlichen Nachbarstaaten wie Zirkuspferde vorgeführt, ohne daß konkrete politische Zugeständnisse an die Adresse der deutschen Vertriebenen erkennbar werden. Manchmal kann man dabei den Eindruck gewinnen, als fehle es auch in den Chefetagen der Schlesier, der Ostbrandenburger und der Pommern an Phantasie, heute schon konkrete Schritte in Richtung auf die Realisierung des Rechtes auf die Heimat einzufordern. Denn wer will schon in einen Heimatort zurückkehren, wo heute nur eine fremde polnische, russische oder tschechische Bevölkerung lebt. Hier gilt es erst einmal so schnell wie möglich ein heimatliches Umfeld zu schaffen, damit sich Deutsche in diesen Vertreibungsregionen wieder zuhause fühlen können. Die heute dort lebenden Menschen müßten schrittweise durch eine entsprechende Bildungsarbeit in den Schulen, Kirchen und regionalen Medien auf das friedliche Miteinander mit rückkehrwilligen Deutschen vorbereitet werden.

Ein wirklicher europäischer Neubeginn könnte zum Beispiel im achten Jahr nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen durch die Schaffung von Europabüros eingeleitet werden, die den heimreisenden Ost- und Sudetendeutschen als Anlaufstelle dienen. Träger dieser Europabüros sollten die entsprechenden regionalen Gremien oder Bundesheimatgruppen der Vertriebenen sein. Hier sollte nicht nur heimkehrenden Ost- und Sudetendeutschen in der Muttersprache wichtige touristische Informationen vermittelt werden, sondern über diese öffentlich geförderten Dienststellen der landsmannschaftlichen Arbeit in der Heimat, zum Beispiel in der schlesischen Landeshauptstadt Breslau und allen alten Kreisstädten vom Isergebirge bis in die ostbrandenburgische Neumark, könnten alle humanitären, sozialen und kulturellen Projekte vorbereitet und abgewickelt werden.

Es geht darum, den Vertriebenen auch die organisatorischen Möglichkeiten zu geben, heute bereits wieder in der Heimat für die Heimat politische Verantwortung zu übernehmen. Von hier aus könnten Begegnungen organisiert und auch alle praktischen Fragen, von der Verwaltungsbürokratie bis hin zur Rückgabe oder zum Erwerb von Immobilien geregelt werden, die bei der schrittweisen Realisierung des Menschenrechtes auf die Heimat anstehen. Sie könnten auch den heutigen örtlichen Verwaltungen sowie der in den Vertreibungsregionen ansässig gewordenen Bevölkerung als wichtige Kontakt- und Informationszentren zur Verfügung stehen. Heimkehrende Deutsche und interessierte Besucher sollten hier zum Beispiel die Heimatzeitungen, die Charta der deutschen Heimatvertriebenen und eine Fülle, wenn möglich auch zweisprachiger, landeskundlicher Literatur vorfinden.

Auch mit Blick auf den Zusammenhalt und die Mitgliederwerbung der Landsmannschaften würden diese Anlaufstellen in der Heimat wertvolle Dienste leisten. Zu deren Finanzierung, die gemessen an den deutschen Milliardentransfers der vergangenen Jahre nach Mitteldeutschland, nach Rußland und auch in die Republik Polen sicherlich einen überschaubaren Millionenbetrag hinauslaufen würde, könnten europäische, russische, tschechische und polnische Gelder oder zum Beispiel Mittel der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit eingesetzt werden. Aber auch die Patenschaftsträger vertriebener ost- und sudetendeutscher Gemeinschaften im Westen, die ja häufig bereits partnerschaftliche Verbindungen zu den heutigen Verwaltungsstellen in den Vertreibungsregionen geknüpft haben, könnten einen wertvollen Beitrag leisten.

Solche Eurobüros der deutschen Vertriebenen in deren Heimatgebieten würden heute schon hoffnungsvolle, konkrete Zeichen setzen, daß man sich unter Einbindung der betroffenen Ost- und Sudetendeutschen ernsthaft um Wiedergutmachung von Vertreibungsunrecht, soweit noch möglich, und ein wirkliches Miteinander von Deutschen und deren östlichen Nachbarn bemüht und daß der absehbaren Auslöschung ganzer deutscher Volksstämme als Folge der anhaltenden Vertreibung doch noch Einhalt geboten werden kann. Hier geht es auch um eine Bringschuld der deutschen und europäischen Politik an die Ost- und Sudetendeutschen, die nicht nur in Jahrzehnten landsmannschaftlicher Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland, sondern seit 1989 auch bei ihrem hunderttausendfachen Einsatz in der Heimat dem friedfertigen Geist der Stuttgarter Charta aus dem Jahre 1950 treu geblieben sind. Doch auch nach dem Abtreten der Kommunisten hat die deutsche und europäische Politik bislang nicht die Kraft für eine würdige Antwort auf den friedfertigen, demokratischen Weg der deutschen Vertriebenen gefunden. Vielleicht ein Anlaß zur Selbstkritik bei den Ost- und Sudetendeutschem die endlich den Mut aufbringen sollten, sich aus in Jahrzehnten gewachsenen politischen Abhängigkeiten zu lösen. Nur durch eine unabhängige moderne grundsatztreue Verbandsarbeit werden die ost- und sudetendeutschen Landsmannschaften zur notwendigen Erneuerung und politischen Vitalität finden.

Alfred Theisen ist Chefredakteur von einem Dutzend kleinerer ostdeutscher Heimatzeitungen, die im Würzburger Goldammer Verlag erscheinen.


 
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