© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    19/97  02. Mai 1997

 
 
Föderalismus: Yvo Peeters über die Notwendigkeit einer Neugliederung Gesamteuropas
"Der erste Schritt zur Revolution"
Interview mit Dr. Yvo J.D. Peeters
Fragen: Gerhard Quast

Herr Dr. Peeters, Sie sagen, das neue Europa verlangt die Abschaffung der bestehenden Nationalstaaten. Das klingt nach einem Einheitseuropa.

PEETERS: Man sollte ganz vorsichtig sein und zwei Tendenzen nicht vermischen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die gegen den Nationalstaat sind, um dann einen europäischen Nationalstaat zu gründen. Ich denke, daß so etwas wie ein europäischer Nationalstaat ein Unsinn ist, der nicht existieren kann. Gleichzeitig betrachte ich die Idee des im 19. Jahrhundert entstandenen Nationalstaats, der auf eine französisch republikanischen Tradition fußt, als ein die Vielfalt erstickendes System, das sich insbesondere in dem Fehlen des Respekts vor der Verschiedenheit von Sprache, Kultur und Völkern äußert.

Welches Konzept für Europa vertreten Sie?

PEETERS: Meine theoretisch-philosophische Basis ist der Föderalismus. Das muß aber präzisiert werden, weil der strukturell-politische Föderalismus, wie wir ihn in Bundesstaaten wie Amerika, Deutschland, Österreich, der Schweiz und Belgien haben, sehr unterschiedlich ausfallen kann. Eine spanische Region wie Katalonien oder das Baskenland hat weit mehr Kompetenzen als ein österreichisches Bundesland. Man muß also mit diesen Terminologien vorsichtig umgehen. Das wichtigste ist, daß man die Gesellschaft von unten nach oben aufbaut, auf Basis der Subsidiarität. Außerdem muß man den kulturellen, sprachlichen und historischen Einheiten Rechnung tragen. Die Ideologie des Nationalstaates nach französischem Muster wird am besten illustriert durch die Aussage eines Unterrichtsministers vom Ende des 19. Jahrhunderts: "Ich weiß genau, welche Seite im Geschichtsbuch alle Kinder Frankreichs jetzt, in dieser Stunde, in dieser Minute, lesen." Und das war auch so!

Und der Nationalstaat hat dabei für Sie keine Bedeutung mehr?

PEETERS: Es geht um den Begriff Nationalstaat. Erstens könnte man den Staat selbst in Frage stellen. Wie ist er entstanden? Wie hat man die Souveränität, die in einer Person, dem Souverän, dem König, dem Fürst oder Imperator jahrhundertelang symbolisiert wurde, auf ein Staatsgebilde, eine Abstraktion, übertragen? Es ist doch wirklich lächerlich, wenn man bedenkt, daß man dieses Konzept "raison d’état", der Staatsräson, entwickelt hat, um irgendwelche Entscheidungen zu begründen. Wenn die Regierungen, das Parlament, wenn diese Institutionen nicht der Staat sind, wer ist dann der Staat? Es ist doch lächerlich, wenn eine Regierung sagt, ich würde gerne dies oder jenes machen, aber die Staatsräson hindert mich daran. Der Staat sind wir, die Bürger! Wir entscheiden, welche Richtung die Politik nehmen soll. Wenn wir demokratische Strukturen aufbauen, dann haben wir Wahlen und ein Parlament – und das Parlament wählt eine Regierung. Aber diese Abstraktion des Staates, das heißt des Begriffs der Souveränität, der in der ganzen Geschichte mit Einzelpersonen zu tun hatte, ist übertragen worden auf ein Gebilde, auf eine Abstraktion und man tut weiter so, als ob es da etwas außerhalb von uns, den Bürgern, gibt, das über eigene Ziele, über einen eigenen Willen verfügt. Das ist eine völlig irrsinnige Sache. Der Staat, das sind wir. Das Volk bildet den Staat. In diesem Sinne, wenn wir die Gemeinschaft wieder umbauen, dann darf es so etwas, was sich Staat nennt, nur insofern geben, als wir ihn als ein Instrument betrachten, das wir benützen, um unsere Gesellschaft zu organisieren. Kommen wir zu der Auffassung, daß wir unsere Gesellschaft besser ohne ein Staatsgebilde organisieren können, dann machen wir das. Aber diejenigen, die den Nationalstaatsgedanken unterstützen, die haben daraus einen absoluten Wert gemacht, der nicht in Frage gestellt werden darf. Das ist unser großes Problem. Wir sollten nicht an Begriffen kleben. Wenn eine Volksgemeinschaft sich organisiert, nennen wir das Staat, warum nicht? Staaten wie Australien, die nennen sich Commonwealth, also Gemeinwesen oder Gemeinwohl. Das ist ein sehr interessanter Begriff. Der Begriff Commonwealth ist im 17. Jahrhundert in Amerika entstanden. Nehmen wir ein Land wie Bayern: Wirtschaftlich und finanziell kann man dieses Bundesland kaum mit Liechtenstein vergleichen. Juristisch-politisch betrachtet, ist Bayern dagegen fast bedeutungslos. Aber Liechtensein ist ein Staat in der Staatengemeinschaft. Diese Theoretisierung unserer Verhältnisse ist das, was das Ganze problematisch macht. Die traditionellen Politiker haben Schwierigkeiten mit der Verknüpfung von Staat und Souveränität. Und sobald man darüber diskutiert, etwa über eine europäische Föderation oder einen Bund der Regionen oder eine Gemeinschaft der Völker, dann fängt man an zu fragen: Wo liegt die Souveränität? Jetzt liegt sie eindeutig beim Staat.

Hängt Ihre Schwierigkeit mit dem Begriff des Nationalstaates nicht auch damit zusammen, daß dieser willkürliche Staatsgrenzen zur Grundlage hat und deshalb nie ethnisch homogen war und ist?

PEETERS: Selbstverständlich ist das so. Staaten sollten sich den Völkern anpassen und nicht umgekehrt. Ein Staatsgebilde soll ein Instrument guter Verwaltung sein. Daher ist es wichtig zu wissen, wo die Gewalt lieg, wer darin herrscht und wie wir ihn organisieren. Ein Bundesstaat ist auch noch ein Staat. Das Wort ist darin enthalten, aber es gibt eine Vielfalt von Beschlußzentren, eine Vielfalt von Machtzentren, eine Verteilung von Kompetenzen. Nicht diese Zentralisierung von Kompetenzen, wie wir sie vielfach feststellen können.

In der EU gibt es sehr einflußreiche Mitgliedsstaaten aber auch Staaten, die über sehr wenig Einfluß verfügen.

PEETERS: Wenn wir friedlich miteinander leben wollen, dann müssen wir auch an Gleichgewichte denken. Das deutsche Volk ist jetzt das größte Volk Westmitteleuropas. Als Sprachgruppe sind die Deutschen mit 100 Millionen die größte. Es ist klar: Wenn wir einen europäischen Bund machen würden und ein Mitglied davon ist das deutsche Volk mit 100 Millionen Menschen und ein anderes Mitglied davon ist das baskische Volk mit zwei Millionen Menschen, daß so ein Gebilde nicht lange Bestand haben wird. Daher muß der Grundsatz der Subsidiarität durch das Gebilde gehen. Das deutsche Volk gliedert sich darin in Regionen und diese sind dann Teil des Ganzen. Es gibt dann natürlich die deutsche Sprach- und Kulturgruppe, wozu auch Österreich und ein Teil der Schweiz gehört, aber politisch ist es auf mehreren Untergliederungen verteilt und die kleineren – Basken, Katalanen – können sich in ein großes Gebilde vereinigen, innerhalb des Ganzen. Was nicht passieren darf, ist, daß eine Grenze, gleich welcher Natur, quer durch ein Volk geht und dieses teilt.

Die Tendenz bei den staatenlosen Völkern geht aber in Richtung auf einen eigenen Staat, wie beim Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens zu beobachten war, und nicht in Richtung auf ein föderatives System. Wie ist denn die Situation derer, die weiterhin als staatenlos gelten können, wie beispielsweise die Basken und die Korsen...?

PEETERS: Man muß vorübergehend akzeptieren, daß jetzt der traditionelle Staat, wie wir ihn kennen, das einzig grundsätzlich anerkannte gesellschaftsordnende Modell ist. Deshalb ist es auch normal, daß die Völker nicht das theoretische Modell einer Volksgemeinschaft bilden werden. Die wollen einen Staat haben, weil das die einzige Organisationsform ist, die eine Stimme in den Vereinten Nationen garantiert, mit der man im politischen Weltspiel mitspielen kann. Ein gutes Beispiel ist Moldawien. Als dieses sich von der UdSSR losgesagt hat, war der einzige Wunsch, sich Rumänien anzuschließen. Alle haben gedacht, in ein bis zwei Wochen oder Monaten ist das geregelt. Und dann auf einmal wurde nachgedacht, wurden – überspitzt gesagt – Briefmarken gedruckt, Fluglinien organisiert, Botschafter ernannt. Nun wollen die Moldawier plötzlich im Spiel der Staaten mitspielen. Über ein Zusammengehen mit Rumänien können sie auch später noch nachdenken. Das ist die Stärke der Normativität vom Staat. Man denkt: Ich kann keine Gewalt ausüben, ohne mich selbst in einen Staat umzuwandeln. Deshalb bleibt der Staat auch für die Kurden, Palästinenser, Berber, Korsen und Basken die notwendige Utopie. Diesen theoretischen Konflikt können wir nur lösen, wenn es nicht mehr unbedingt notwendig ist, einen Staat zu haben, um sich selbst zu verwalten und alle notwendigen Entscheidungen zu fällen. Dann wird sich dieses Phänomen nicht mehr hervortun. Bis jetzt ist das theoretische Endziel aller Völker, einen eigenen Staat zu bilden. Es gibt allerdings ungefähr 7000 Völker in der Welt. Es wäre ein Unding, wenn es folglich 7000 Staaten in traditioneller Form geben würde und diese sich in einer Art von Vereinter Nationen mit 7000 Mitgliedern organiseren würden. Das ist völlig unmöglich. Was es aber nicht geben darf, daß ein Volk ein Recht hat, das man einem anderen Volk nicht zubilligt. Die Tschetschenen haben natürlich grundsätzlich das gleiche Recht auf Selbstorganisation wie die Russen. Nun gibt es aber eine Menge von anderen Kriterien, die machen das nicht durchsetzbar. Selbst wenn ich sage, die Unabhängigkeit der Tschetschenen kann ich aus diesem oder jenem Grund nicht befürworten, spreche ich ihnen natürlich trotzdem ihr Anrecht darauf nicht ab. Das ist eine andere Position, als die derjenigen, die sagen: Was wollen die 700.000 Tschetschenen? Die sind jetzt bei Rußland und sollen gefälligst da bleiben.

Aber liegt es nicht an den Staaten selbst, daß Völker sich abtrennen wollen, weil eine weitergehende Autonomie verweigert wird?

PEETERS: In einem Staat wie Frankreich denkt man noch in der traditionellen Weise, daß Autonomie der erste Schritt zur Unabhängigkeit sei. Ich sage, Unterdrückung ist der erste Schritt zur Revolution, zu Krieg und dann vielleicht zu Unabhängigkeit. Es sind die sehr traditionell nationalstaatlichen Denker in Frankreich, die können nur in die eine Richtung denken: Wenn wir ein bißchen Autonomie geben, kommt sofort ein zweiter und ein dritter Schritt und alles endet schließlich in der Abtrennung. Ähnlich ist es in Spanien. Es gibt zahlreiche Menschen, die glauben, wenn man den Basken noch mehr Autonomie zubilligt, dann rufen diese die Unabhängigkeit aus. Andere meinen dagegen, daß es erst mit zunehmender Repression im Baskenland zu vermehrtem Unabhängigkeitsstreben kommen werde. Diese beiden Ansichten finden sich in allen spanischen Parteien. Autonomie als Beseitigung von Irredentismus oder Autonomie als erster Schritt zu Krieg und Unabhängigkeit. Das sind zwei Überzeugungen, die miteinander nicht zu verbinden sind.

Sie sind für weitestgehende Minderheitenrechte?

PEETERS: Erstens muß man natürlich die Größe der Völker berücksichtigen. Das ist ein objektives Kriterium. Schauen Sie sich einmal an, welche Politik die Schweiz gegenüber den Rätoromanen betreibt. Das sind weniger als 50.000 Einwohner, die sich auf mehrere Mundarten in fünf Tälern verteilen. Die Rätoromanen sind die pro Kopf am meisten staatssubventionierte Sprachgruppe der Welt. Trotzdem nimmt die Zahl ihrer Sprecher ab. Es gibt Volksgruppen, die nur noch einhundert Menschen umfassen. Es sterben jedes Jahr Sprachen und Völker aus, und das wird auch so weitergehen. Liegt dieses Sprachensterben und das Verschwinden ganzer Völker nicht auch an der weltweiten Vereinheitlichung der Lebensbereiche mittels modernster Medien und der Globalisierung der Märkte? PEETERS: Teilweise – aber nicht nur. Es verschwinden Sprachen in weit entfernten Gegenden, in denen die modernen Medien fast noch nicht durchgedrungen sind. Ich denke dabei beispielsweise an Volksgruppen im Norden Sibiriens oder Amazonien.

Allein dadurch, daß es sich um traditionell kleine Volksgruppen handelt?

PEETERS: Sprachen sind Instrumente von Völkern. Sprachen an sich sind nicht mächtig oder schwach. Sprachen sind nicht imperialistisch. Diejenigen, die sie sprechen, sind stark oder schwach. Wir haben in Belgien Probleme mit den Frankophonen. Aber zu sagen, Französisch sei eine imperialistische Sprache, wäre eine dumme Äußerung. Es sind Franzosen, die eine imperialistische Sprachpolitik betreiben. Gleichheit existiert schon aufgrund der Größe nicht, Ungleichheit zwischen den Völkern ist die Regel. Die kommen miteinander in Kontakt und der Schwächere hat das Nachsehen.

Wo existiert Ihrer Erfahrung nach in Europa das vorbildlichste Minderheitenrecht?

PEETERS: Das ist eine schwierige Frage. Die deutsche Volksgruppe in Belgien zum Beispiel hat ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung, alle Kompetenzen, sogar Außenkompetenz und Vertragskompetenz. Aber wenn ich einige Leute fragen würde, ob sie zufrieden sind, werden die Nein sagen, weil ihr einziges Ziel die Rückkehr nach Deutschland ist, weil sie einfach deutsche Bürger sein wollen. Auch Südtirol hat ein weitgehendes Minderheitenstatut, aber ein großer Teil der Bevölkerung sagt: Damit bin ich nicht zufrieden, weil ich Tiroler war und Tiroler bin und deshalb zu Österreich gehöre.

Wie sieht es bei anderen Völkern aus?

PEETERS: Sind die Katalanen zufrieden? Die große Mehrheit ist vielleicht damit zufrieden, was sie erreicht hat. Etwa 20 Prozent der Basken sind nicht zufrieden und erschießen Leute. In Korsika gehen Bomben hoch, so auch in Nordirland und vor einigen Jahren auch in der Bretagne.

Wie ist dieses Dilemma zu lösen?

PEETERS: Wir müssen in einem Totalkonzept dem Gesamtkontinent, einem Kontinent, auf dem ungefähr 80 bis 90 verschiedene europäische Völker leben, eine neue Ordnung geben, in der Politik, Kultur, Wirtschaft und Sprache ein entsprechendes Entscheidungsniveau hat. Warum brauchen wir Institutionen, Gesetze zwischen Menschen? Weil sie ungleich sind. Recht schafft Gleichheit oder sollte sie zumindest schaffen. Die fundamentale Funktion eines Rechtssystems ist es, Gleichberechtigung zu schaffen. Dies gilt auch für Sprachen und Kulturen.

Ihr Föderalismuskonzept soll also gleichzeitig eine friedenschaffende Maßnahme sein?

PEETERS: Betrachten wir die 3000 Jahre europäischer Geschichte. Das ist eine Aneinanderreihung von Kriegen: Von Sparta gegen Athen über Florenz gegen Bologna, Italien gegen Frankreich, und dann die ganze Welt gegeneinander. Wenn wir das zukünftig verhindern wollen, dann müssen wir unsere Nationen, Völker und Regionen in ein Gesamtsystem einbinden. Im Moment ist die Europäische Union weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat, es ist ein eigenes Gebilde. Ein Staatenbund ist wie eine flüchtige chemische Verbindung, die auf Dauer nicht bestehen bleiben kann. Das Wort Föderation hingegen beinhaltet eine Vereinbarung darüber, was man miteinander tun oder nicht tun will. Eine Föderation ist nicht dazu da, Konflikte zuzudecken, sie ist dazu da, jeden Tag zu Entscheidungen zu kommen.

Zur Person: Dr. Yvo J.D. Peeters, Vize-Präsident des Internationalen Forums nationaler Bürgerbewegungen (Budapest), Jahrgang 1949, studierte Geschichte, Archäologie und Soziologie an der Universität Brüssel, machte seinen Doktor in vergleichendem Europarecht mit einer Dissertation über Minderheitenschutz an der italienischen Universität Urbino, forschte am Institut Cassin in Straßburg, der Universität Gent und in Aosta/Italien zum Themenkomplex Föderalismus und Minderheitenschutz. Zahlreiche Aufträge im Rahmen internationaler Organisationen wie EG-Kommission, Europarat, Europäisches Parlament, Unesco, Uno-Hochkommissar für Flüchtlinge u.ä. machten ihn zu einem Fachmann im Bereich Minderheitenschutz und Sprachenrecht. Er ist stellvertretender Vorsitzender des belgischen Helsinki-Komitees, Direktor der Forschungsstelle für Nationalitätenrecht und Föderalismus, Präsident des Dokumentations- und Informationsnetzwerkes für Nationalitäten und Interethnische Verhältnisse sowie Mitbegründer des Nationalitätenausschusses der Helsinki-Bürgerversammlung (Prag).


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen