© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/97  25. April 1997

 
 
Klaus Hornungs Biographie des preußischen Heeresreformers Scharnhorst
Lehren sind noch immer lebendig
Rezension
von Albrecht Jebens

Am 200. Geburtstag des preußischen Militärreformers Gerhard von Scharnhorst am 12. November 1955 wurde im Westen Deutschlands die Bundeswehr aufgestellt. Zwei Monate später, am 18. Januar 1956, dem 85. Jahrestag der Reichsgründung, wurde in der DDR die kasernierte Volkspolizei zur Nationalen Volksarmee (NVA) umdeklariert. Beide deutschen Nachkriegsarmeen beriefen bzw. berufen sich, wie übrigens die Wehrmacht auch, auf Scharnhorst, der nach 1806 das preußische Militär auf neue Beine stellte und damit die Voraussetzung für den Wiederaufstieg Preußens und das moderne deutsche Wehrwesen schuf. Ist heute, 40 Jahre nach Aufstellung der Bundeswehr, ihr Anspruch auf das Erbe Scharnhorsts eingelöst worden?

Der Politikwissenschaftler Klaus Hornung hätte seine politische Biographie nicht geschrieben, wenn Scharnhorsts Lehren heute noch lebendig wären. Sie sind es nicht. Das tief herabgesunkene Ansehen des Soldaten und Offiziers, die Abschaffung des Generalstabs, Kopf jeder Armee, und die faktische Abschaffung der Wehrpflicht durch die Kriegsdienstverweigererbewegung sprechen eine deutliche Sprache. Zudem glaubt die politische und militärische Führung der Bundeswehr der vielfältigen deutschen Militärtradition dadurch entrinnen zu können, daß sie sich auf die 40jährige Friedensgeschichte im NATO-Bündnis bezieht.

Der Verfasser legt mit dieser Biographie eine historisch-politische Denkschrift vor, aus der Erkenntnis Scharnhorsts, daß Armeen nur etwas taugen, wenn sie die Struktur der Nation widerspiegeln und wenn sie vom gleichen Geist beseelt sind, der diese Nation trägt. So jedenfalls hatte General Graf Baudissin den Imperativ der Integration der Streitkräfte in Gesellschaft und Staat formuliert (S. 297), aber er war 1955 von einem normalen Volk ausgegangen. Heute ist unser Volk psychisch schwer angeschlagen; die Streitkräfte sind demgegenüber immer noch um Grade gesünder. Aber sie nehmen Züge an, wie sie der US-amerikanische Historiker Gordon Craig formulierte (S. 296): "Ohne Traditionsbewußtsein ist eine Streitmacht perspektivlos und richtungslos; ihr Bewußtsein schwindet, sie wird zu einer reinen technischen Einrichtung, deren Sinn und Zweck das Töten ist."

Hier setzt Hornung an, denn die ent-nationalisierte Zivilgesellschaft wurde in die Nachkriegsstreitkräfte integriert, nicht umgekehrt, mit der Folge, daß zunächst das Berufsethos des Soldaten minimiert und nun, im Zuge der Rechtsprechung ("Soldaten sind Mörder"), des Traditionskahlschlags und der Anti-Wehrmachtsausstellung die "P.C.-Axt" die Wurzeln allen Soldatentums kappt – die Konsequenz von 50 Jahren innerlicher Anwendung vom Wehrgedanken durch eine politische Führung, die im Militär immer nur ein notwendiges Übel sah und sieht.

Scharnhorst redivivus? Hornung wünscht es sich, weil er um die Gefahren weiß für ein Volk, das – nach Görres – "seine Vergangenheit von sich wirft und damit seine feinsten Lebensnerven gegenüber allen Stürmen einer wetterwendischen Zukunft entblößt" (S. 9). Hornung will ein neues "1806" zu verhindern helfen, weil er mit der Rückkehr von uns Deutschen in die Geschichte seit 1990 auch die zivilgesellschaftliche Doktrin der Bundeswehr als antiquiert erkennt. Sein Buch ist eine akademische Philippika gegen den historischen Analphabetismus der Bonner Republik, oder – positiv gewendet – eine Ermutigung auf dem zu beschreitenden Weg zu einer von Scharnhorsts Vermächtnis inspirierten Berliner Republik.

Daher wünscht man sich Hornungs Werk nicht nur in jede Truppenbücherei, sondern vielmehr in den Kopf jedes Verteidigungspolitikers. Es schildert, wie Scharnhorst als junger hannoverscher Offizier mit ähnlichen Herausforderungen wie heute fertig werden mußte, denn die Berufssoldaten seiner Zeit, heute als "goldene Lösung" für die Abschaffung der Wehrpflichtarmee gepriesen, galten unter Intellektuellen um 1790 als "gedungene Mörder" (Voltaire), als "Kriegserklärung der Herrscher gegen das eigene Volk". So erlebte Scharnhorst als junger Offizier den Zusammenbruch dieser Heere vor dem Ansturm der französischen Volksheere. 1801 nach Preußen übergewechselt, versuchte er durch vorausschauende Reformen – Einführung einer Generalstabsausbildung, Bildung der Offiziere, Einführung des aufgelösten Gefechts, Gliederung der Armee in selbständige Großverbände (Divisionen) und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht – die Katastrophe von 1806 abzuwenden. Doch wurden seine Vorschläge erst danach verwirklicht.

Die Lektüre des ungemein verdichtet und flott geschriebenen Buches führt den sachkundigen Leser, der mit einer Nahsicht- und Weitsichtbrille ausgestattet ist, im Grunde genommen immer wieder in die Gegenwart. Plastisch tritt dabei die herausragende Persönlichkeit Scharnhorsts hervor; sein sozialer Aufstieg aus einfachen Verhältnissen über den Soldatenstand, seine frühe Förderung durch den weitsichtigen Landesherrn in Schaumburg-Lippe, die systematische, langfristige Ausbildung, die Selbsterziehung und dadurch die Befähigung zum selbständigen Denken. Dabei wird Scharnhorsts Denken in den großen geistigen Strom seiner Zeit überzeugend eingebettet. So ergriff er Partei für die geschichtlich gewachsene Welt der europäischen Staaten, ihre Vielfalt und ihr Gleichgewicht. Hornung legt mit diesem Werk, das die Fragestellung seines ersten großen Werks "Staat und Armee" fortführt, das historische Fundament für ein neu in Volk, Geschichte und Ethos zu verankerndes Militär. So wie Scharnhorst Preußen durch die Synthese von Staat und Bürgertum in der Wehrpflichtarmee gesundete, so lautet auch Hornungs Anliegen, sei unser Gemeinwesen sittlich und politisch grundlegend zu erneuern, ihm die Normalität im Spannungsbogen von Nation – Militär – Demokratie zu verleihen, die für unsere Nachbarn in Europa selbstverständlich ist.

Dann kann auch Scharnhorsts Denkmal wieder seinen angestammten Platz neben der Schinkelschen "Neuen Wache" Unter den Linden in der deutschen Hauptstadt zurückerhalten.

Klaus Hornung: Gerhard von Scharnhorst. Soldat–Reformer–Staatsmann. Die Biographie, Bechtle Verlag, München 1997, 264 Seiten, geb., 39,90 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen