© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/97  18. April 1997

 
 
rankreich: Die Vichy-Vergangenheit ist allgegenwärtig
Böse Banalisierung
Meinungsbeitrag
von Alain de Benoist

Der Historiker der Zukunft wird nicht wiederkehren: Fünfzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches ist Hitler auch in Frankreich allgegenwärtig. Schon die Generation des Mai ’68 hatte de Gaulle als "Faschisten" denunziert und die gegen die Demonstranten eingesetzten CRS-Sondereinsatzkommandos als "SS". Heute hat sich die französische classe politique daran gewöhnt, sich gegenseitig mit allerlei dem Hitlerismus oder von Vichy entlehnten Schmähungen zu überschütten. So setzten Demonstranten vor einigen Wochen das Einwanderungsgesetz des Innenministers Debré mit den antisemitischen Verordnungen des Vichy-Regimes gleich und verglichen Debré, selbst Urenkel eines Rabbiners, mit Marschall Pétain. Andere wiederum begaben sich mit ihren Koffern zum Pariser Ostbahnhof, um "nach Auschwitz abzufahren". Der Kongreß des Front National in Straßburg wurde zum Gegenstand des gleichen Psychodramas: Man hat wohl seit der Nazi-Okkupation nicht mehr so viele Hitler-Bilder in der elsässischen Metropole gesehen, wie zu diesem Anlaß! Persönliche Betroffenheit und Opferstatus machen sich dabei immer gut. Die gebräuchlichste Taktik besteht darin, sich selbst mit Hauptmann Dreyfus zu vergleichen oder wie der vorbestrafte sozialistische Politiker, Sportartikelhersteller und und ehemalige Präsident des Sportvereins Olympique Marseille, der sich von der "Gestapo" verfolgt wähnt. Auch in der internationalen Politik werden die Bösewichter regelmäßig mit Hitler verglichen. Jede Polemik gegen Biotechnologie mündet unfehlbar im Schatten des Dr. Mengele, um nicht von den "faschistoiden" Ansichten in moralischen Dingen beim Heiligen Stuhl zu sprechen.

Auch der Front National kann ein Lied davon singen: Jean-Marie Le Pen ist selbstverständlich ebenfalls eine Reinkarnation von Hitler (so stand es auf den Antifa-Plakaten in Straßburg), Bruno Mégret – das ist Goebbels, Bruno Gollnisch ist Rudolf Heß – und endlich Marie-France Stirbois, das weiß jeder, ist Eva Braun! So stottert die Geschichte seit 1945, was dazu führt, daß man sich ohne Risiko der Résistance, dem Widerstand zuzählen kann – freilich mit einem halben Jahrhundert Verspätung. Die mediale Orchestrierung erledigt den Rest: Bücher und Fernsehsendungen folgen aufeinander bis zur Überdosis wie eine Einimpfung von Erinnerung zu dem einzigen Zweck, immer wieder daran zu gemahnen, daß der Schoß immer "noch fruchtbar" ist. Was kümmert es, daß dieser "Nazismus" in die Geschichte entschwunden ist? Man schwimmt in einer armseligen Metaphysik, in der das Dritte Reich der erhabenste Bezugspunkt ist. Hitler hat die Rolle eines Teufels eingenommen in einer Welt ohne Gott.

Diese wahnsinnigen Wolkengebilde können kaum überraschen, bildet doch der "Antifaschismus" seit 1945 den Sockel der Legitimität der liberalen Demokratien. Wie Jean-Luc Allouche in der linken Libération vom 25. 2. 97 meinte, "kann man nicht seit Ende des Krieges die Sensibilität ganzer Generationen allein durch Bücher, Kino oder Fernsehen nach dem Vorbild der Résistance formen und sie dauerhaft alarmiert über die Schlechtigkeiten des Vichy-Regimes und der Kollaboration mit den Deutschen in dieser Zeit halten, um dann darüber erstaunt zu sein, daß das wiederum als negatives Vorbild dient". Der Nazismus, aus diesem Blickwinkel betrachtet, wird immer schlimmer als der Kommunismus sein, da er ja zu einer Zeit von den Demokratien bekämpft wurde, als Stalin ihr Alliierter war. Der Nazismusvorwurf ist deshalb so lohnend, weil er gleichzeitig mit dem Nachbarbegriff "Faschismus" alles in einen Topf wirft, was sich möglicherweise der herrschenden Ideologie entgegenstellen könnte. Man bedient sich seiner mit umso besserem Gewissen, da ja "gegen Hitler alles erlaubt" ist. Der rhetorische Antifaschismus funktioniert dabei auch als Legitimation für Gewalt und Verfolgung – und dort trifft er sich mit den tatsächlichen Totalitarismen wieder, die immer angewandt wurden, um die Meinungsfreiheit einzuschränken.

Dieser obsessive Antifaschismus auf der Grundlage verbrauchter historischer Vergleiche trägt aber genau zu den Übelständen bei, die er vorgibt, verhindern zu wollen: die Banalisierung eines Phänomens gerade durch diejenigen, die behaupten, es sei "einzigartig" und die stets betonen, daß man es mit nichts in der Geschichte vergleichen könne und dürfe. Diese Banalisierung aber erzeugt auf Dauer lediglich Gleichgültigkeit und Ermüdung. Sie bringt bisweilen sogar eine paradoxe Sympathie hervor: Wenn Le Pen gleich Hitler ist, so mögen sich nicht wenige Wähler des Front National gesagt haben, die sich selbst nicht unbedingt als Faschisten sehen, dann war Hitler nicht das, was man uns gesagt hat. Schließlich paßt dieser krankhafte Gebrauch der Geschichte zu jener ungewöhnlichen intellektuellen Trägheit, die sich jede wirkliche Analyse der Situationen erspart. Aber die Gegenwart nicht durch die Vergangenheit interpretieren zu wollen, hieße, sich selbst zur Blindheit gegenüber den aktuellen Realitäten zu verurteilen.


 
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