© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
Standort Bonn: NATO-Hauptquartier erwägt seinen Umzug an den Rhein
Wirkung wie ein Magnet
von Ilse Meuter

Ungewöhnlich gut unterrichtete Kreise haben es klammheim-lich verlauten lassen: In absehbarer Zeit könnte aus Bonn, dem Regierungssitz auf Abruf, ein militärischer Logistik-Gigant werden. Dies mutet paradox an, triumphiert zwischen Hardthöhe und Hangelar doch seit Heuss und Adenauer das Zivilgesellschaftliche. Tatsächlich aber ist die "Berliner Republik" dabei, wenngleich behäbig, konkrete Konturen anzunehmen. Der Umzug an die Spree ist unaufhaltsam; Parlament, eine Reihe von Ministerien, dazu der Bundesrat, kommen fest. Nicht aber das Verteidigungsministerium; die Rühe-Behörde soll auch künftig am Rhein verbleiben.

Unbeschadet solcher Ungereimtheiten wird die ethnisch-territoriale Zusammensetzung der künftigen NATO "östlicher" werden, und dazu paßt nicht übel, daß "ganz oben" erwogen wird, dieser Entwicklung, zur Freude der neuen Waffenbrüder, auch symbolisch Ausdruck zu verleihen. Das "Headquarter" soll fortan ein Stück weit näher "to the eastern area" liegen, will sagen: es soll nach Bonn, der notleidend gewordenen Hauptstadt der 1990 untergegangenen alten Bundesrepublik. Bonner Regierungskreise beeilten sich allerdings, entsprechende Presseberichte als "absolut ungelegte Eier" zu bezeichnen. Zwei Dinge dürften indes den kühnen Überlegungen förderlich sein: die offenkundige innere Zerrüttung des eher künstlich anmutenden belgischen Gemeinwesens und die gebetsmühlenhaft kolportierte Notwendigkeit von "Ausgleichsleistungen", die der ihrer unverhofften Glorie verlustig gegangenen rheinischen Mittelstadt zustünden.

Der Plan hat naturgemäß bei interessierten Brüsseler Kreisen erheblichen Unmut ausgelöst. Wenngleich für das Vorhaben zunächst keine Bestätigung zu erhalten ist, läßt ein Insider im vertraulichen Gespräch mit JF-Mitarbeitern keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Beabsichtigten. Die bevorstehende Aufnahme neuer Mitglieder kollidiere mit der räumlichen Beengtheit der Brüsseler Verhältnisse, so daß man sich konkrete Gedanken um einen neuen Standort mache. Belgiens Außenminister Erik de Rijke machte selbst darauf aufmerksam, daß auf Brüssel dreifaches Ungemach zukomme: Die Sparzwänge könnten schon in naher Zukunft Straßburg zum einzigen und alleinigen Sitz des Europäischen Parlaments machen; die NATO trage sich mit Abwanderungsplänen, und diesem Sog könnten dann auch die Gremien auf EU-Kommissionsebene folgen. Das wiedervereinigte Deutschland wirke wie ein Magnet, weshalb der Peripherie auf Dauer nichts übrig bleiben werde, als sich in diesen Lauf der Dinge zu fügen.

Der strategische Hintergrund dessen ist, daß 1999 die Verhandlungen mit der ersten Gruppe beitrittswilliger Staaten abgeschlossen sein wird und die Aufnahme Polens, Ungarns, der Tschechei und Sloweniens in die nordatlantische Allianz noch vor dem Jahr 2000 erfolgt. In der Tat sind die Brüsseler Räumlichkeiten mittlerweile außerordentlich beengt, weitere Bauplätze stehen nicht zur Verfügung. Zusätzlich zur NATO werden Dienststellen zur Pflege der "Partnerschaft für den Frieden" erforderlich, auch diese Organisation benötige eigene Sekretariate und Konferenzräume. Damit dürfte laut Insidermeinung die Suche nach Alternativen unausweichlich geworden sein. Es treffe sich bestens, daß 1999 der Umzug der Regierung an die Spree erfolge, wodurch Bonn sich als neuer NATO-Sitz geradezu anböte.

Auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT verlautete von der Pressestelle dieser mächtigsten Militärmacht der Welt, die 16 Verbündeten seien per Fragebogen bereits aufgefordert worden, sich zu dieser speziellen Standortfrage konzeptionell zu äußern, ob und wohin der Umzug stattzufinden habe; Vorschläge seien dem spanischen Generalsekretär Solana zu unterbreiten. Ob von deutscher Seite bereits Schritte erfolgt sind, bleibt vorerst im Dunkeln. Sollte im NATO-Rat tatsächlich ein einstimmiger Beschluß zustandekommen, die Zentrale an den Rhein zu verlegen, müßte die Bundesregierung vermutlich das derzeitige Verteidigungsministerium auf der Hardthöhe zur Verfügung stellen. Die Rühe-Bürokratie könnte womöglich ins brandenburgische Strausberg umziehen, der vormaligen Kommandozentrale der Nationalen Volksarmee der DDR.

Die NATO war 1967 von Paris nach Brüssel gezogen, da ein Jahr zuvor Präsident de Gaulle die französischen Streitkräfte aus der militärischen Integration des damals noch rein nordamerikanisch-westeuropäischen Bündnisses herauslöste. Am 1. März 1967 eröffnete in Brüssel die politische und am 16. Oktober im südwestbelgischen Casteau die militärische Zentrale SHAPE. Es nähme nicht wunder, wenn sich das derzeitige Gastgeberland mit aller ihm verbliebenen Kraft gegen einen Umzug wehren würde, zumal mehrere tausend finanzkräftige NATO-Bedienstete einen erheblichen Wirtschaftsfaktor darstellen; auf ihn wird die heruntergewirtschaftete Region zwischen Wallonie und Flandern auf keinen Fall verzichten wollen. Die notwendige Zustimmung der belgischen Regierung dürfte, wenn überhaupt, nur gegen entsprechenden "Ausgleich" zu haben sein.

Freilich: Wer möchte im Zeichen grassierender "Symbolpolitik" unterschätzen, was ein Goodwill-Umzug "nach Osten" bedeutet? Selbst wenn es dabei bloß um 250 Kilometer geht.

Käme es tatsächlich zu einem Umzug des NATO-Hauptquartiers, wäre an Richard von Weizsäckers bemerkenswertes Wort zu denken, die Bundesrepublik (in damals noch unerweiterter Version) sei allemal "der Osten des Westens". Der liegt ab 1999 weit hinter Warschau. Wo aber, so möchte man mit Blick auf keimende Moskauer "Integrations"-Wünsche fragen, beginnt eigentlich der "Westen des Ostens"?


 
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