© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
NATO-Osterweiterung: Duma-Vizepräsident Baburin über Gefahren für die Stabilität Europas
"Recht auf nuklearen Erstschlag"
Interview mit Sergej Nikolajewitsch Baburin
von Vlado Vurusic

In Rußland wurde wegen des angekündigten NATO-Beitritts von Polen, Tschechien und Ungarn viel Aufsehens gemacht. Warum sind Sie ein so erbitterter Gegner der NATO-Osterweiterung?

BABURIN: Die Politik der NATO-Osterweiterung ist gewiß nicht das wichtigste Problem des heutigen Rußland, sie ist jedoch eines seiner Schlüsselprobleme. Dieser Initiative des Westens müssen wir weise und vorsichtig entgegentreten, immer unseren Interessen Rechnung tragend, von den politischen und wirtschaftlichen bis zu den Verteidigungs- und Sicherheitsinteressen. Um es vorweg zu sagen: Mögen auch noch so viele Staaten dem NATO-Bündnis beitreten, wir fürchten uns nicht vor seiner Erweiterung, treten ihm aber behutsam und vorsichtig entgegen. Das Wesentliche dabei ist folgendes: die Erweiterung der NATO auf den europäischen Osten ist ein feindlicher Akt Rußland gegenüber. Mit diesem Schritt zeigt der Westen klar seine feindliche Einstellung zu uns, mag er auch heute behaupten, wir seien Verbündete, und jener Schritt sei keineswegs gegen Rußland gerichtet. Es stellt sich die einfache Frage: Wenn dieser Akt nicht gegen Rußland gerichtet ist, gegen wen dann? Und warum bedarf die NATO einer Erweiterung? Deshalb ist die NATO-Erweiterung auf die ehemaligen Blockverbündeten der UdSSR für uns nicht annehmbar!

Die Vertreter der NATO-Mitgliedsländer behaupten genau das Gegenteil, daß dadurch die europäische Sicherheit gestärkt würde…

BABURIN: Lassen Sie diese Märchen! Die NATO ist ein militärisches Bündnis, das seit seiner Gründung 1949 – am Anfang des Kalten Krieges und während der ganzen Zeit seines Bestehens – seine offene Feindschaft gegenüber Rußland gezeigt hat. Es wurde zwecks Vorbereitung des Zusammenstoßes mit dem anderen Block, dem jetzt schon hingeschiedenen Warschauer Pakt, ins Leben gerufen. Kein Mensch hat mich bisher davon überzeugt, daß sich die Grundlagen für die NATO während der sieben acht Jahre drastischer soziopolitischer Änderungen in Europa verändert haben. Sollte die NATO nicht mehr dieselbe Aufgabe haben, derentwegen sie gegründet wurde, sehe ich auch keinen Grund für ihr weiteres Bestehen. Und noch weniger für ihre weitere Ausdehnung bis an die Westgrenzen Rußlands. Durch die NATO-Erweiterung auf Polen, Tschechien, Ungarn und auf andere osteuropäischen Staaten, würde dieser Kriegsbund näher an unsere Grenzen rücken, als er während des Kalten Krieges war. Es scheint mir, daß sich die NATO auch heute auf einen Krieg gegen Rußland vorbereitet. Wenn damit die Einschüchterung Rußlands erreicht werden soll, dann hat man sich arg getäuscht. Wir sind keine Angsthasen.

Was, meinen Sie, ist der Grund für den Wunsch Polens, Tschechiens und Ungarns, der NATO beizutreten? Meinen Sie, daß sie Angst vor Rußland haben?

BABURIN: Ich würde nicht sagen, daß das Problem in den Ländern zu suchen ist, die der NATO beitreten möchten. Meiner Meinung nach ist das Problem in der NATO selbst zu suchen, im Prinzip dieses Systems der kollektiven europäischen Sicherheit. Die NATO-Osterweiterung wird zu einer Destabilisierung und der Gefahr neuer Spaltungen und Teilungen in Europa beitragen. Die Frage ist, wer dieses System braucht, und vor wem geschützt werden soll? Vor Rußland? Bedeutet dies, daß sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Rußland seit dem Kalten Krieg nicht verändert haben? Für mich ist und bleibt die Vorgehensweise der NATO-Mitgliedsländer, wie auch der Länder, die sich für einen Beitritt vorbereiten oder auf ihn warten, ein Akt des Mißtrauens, was auch immer sie uns glauben machen möchten.

Warum meinen Sie, daß die NATO eine Gefahr für Rußland darstellt? Wurde nicht auch Rußland die Mitgliedschaft angeboten?

BABURIN: Die NATO ist eine andauernde Gefahr für unsere Sicherheit. Sie hat eine gemeinsame Kommandostruktur und ein gemeinsames politisches System. Erinnern wir uns nur an die massive Bombardierung der Serben in Bosnien und Herzegowina. Wer kann uns garantieren, daß wir so etwas nie erleben würden? Was Ihre Bemerkung angeht, daß auch Rußland eine Mitgliedschaft in der NATO angeboten wurde, bin ich der Meinung, daß dies nicht aufrichtig war. Wir würden uns in einer erniedrigenden Lage befinden, wenn wir einen Bittantrag für die Mitgliedschaft machen, dann für den Eintritt Schlange stehen müßten, um am Ende abgewiesen zu werden. "Die Eintrittskarten sind vergeben, Sie haben umsonst gewartet", würde man uns sagen, und für uns, als Großmacht, wäre das mehr als erniedrigend. Außerdem ist Ihnen wahrscheinlich bekannt, daß seinerzeit die UdSSR beziehungsweise Nikita Chruschtschow, der damalige Generalsekretär der KPdSU, den amerikanischen Präsidenten Eisenhower über eine Mitgliedschaft befragte, und daß wir dann abgewiesen worden sind. Nach der Begegnung mit den europäischen Diplomaten in Brüssel und Straßburg, wie auch nach den Begegnungen hier in Moskau, scheint es mir, daß die Europäer die NATO in demselben Sinne verstehen. Ich habe mich davon überzeugt, daß sie die NATO als eine Lebensweise und einen Lebensstil auffassen. Diese Denkweise ist im Bewußtsein dieser Leute eingepflanzt und hat sich während des Kalten Krieges entwickelt. Dieses Bewußtsein haben sie bis heute beibehalten. Für sie gilt: wenn eine NATO, dann gegen Rußland. Wenn sie das so sehen, müssen sie vorsichtig sein. Die NATO wird von ihnen als der wichtigste Teil der globalen Architektur der europäischen Sicherheit aufgefaßt. Es ist, als ob sie nicht verstehen könnten, daß es so etwas wie einen Warschauer Pakt nicht mehr gibt, der der NATO den Sinn für ihr Bestehen gab, eine UdSSR, jene Nuklearmacht, vor der sie Angst hatten, und die ihr potentieller Gegner war. Wenn das alles in Betracht gezogen wird, ist die Bemühung um die NATO-Erweiterung eigentlich eine Bedrohung europäischer Sicherheit, und nicht nur eine Erneuerung der Feindseligkeit Rußland gegenüber.

Sind Sie nicht der Meinung, daß die NATO-Erweiterung eine Garantie für die europäische Sicherheit im Verlaufe der Integrationsprozesse ist, von denen Europa derzeit erfaßt und zu denen Rußland eingeladen wird?

BABURIN: Nein, es sind nicht Sicherheitsgarantien, die im Mittelpunkt stehen, sondern die Bedrohung Rußlands. Außerdem werden durch die NATO-Osterweiterung andere Vereinbarungen und Verträge zwischen der NATO und der UdSSR problematisch. De facto und de jure wurden diese Vereinbarungen und Verständigungen, die die europäische Sicherheit berühren, seitens Europas und der USA beziehungsweise der NATO-Mitgliedstaaten, gebrochen. In erster Linie bezieht sich das auf die Vereinbarungen über die Reduzierung der nuklearen Bewaffnung. Es ist die NATO, die die Fundamente der europäischen Sicherheit bedroht: wenn nur ein einziges neues Mitglied hinzutritt, wird für uns eine Rechtsbasis geschaffen, wonach vorangegangene Vereinbarungen, zum Beispiel jene über die Begrenzung der Verwendung von Mittel- und Kurzstreckenraketen, eigentlich ungültig geworden sind. Die Verantwortung dafür trägt die NATO!

Die Parteien, die solches mit der NATO vertraglich vereinbart hatten, die UdSSR und der Warschauer Pakt, existieren zwar nicht mehr, es versteht sich jedoch, daß die entsprechenden Verpflichtungen von Rußland übernommen worden sind…

BABURIN: Ja. Rußland hat die vertraglich vereinbarten Verpflichtungen der ehemaligen UdSSR als eigene übernommen. Jedoch vom rechtlichen Aspekt her, wenn diese Verträge im Lichte der NATO-Erweiterung betrachtet werden, einer solchen, die sich sogar auf Länder erstreckt, die diese Verpflichtungen geteilt hatten, während sie noch Mitglieder des Warschauer Paktes waren, dann kann das ganze Problem auch anders aufgefaßt werden. Die NATO-Osterweiterung ist ein Bruch der erreichten Verständigungen über die europäische Sicherheit!

Warum behaupten Sie unentwegt, daß die NATO Rußland bedroht?

BABURIN: Rußland und die NATO beziehungsweise ihre wichtigeren Mitglieder, sind Nuklearmächte. Außerdem mußten wir unsere Nuklearpotentiale aus den anderen Staaten der ehemaligen UdSSR zurückziehen. Schon die Existenz der NATO ist für mich ein Zeichen dafür, daß dieses Kriegsbündnis gegen jemanden gerichtet ist. Sollten auch wir zum Mitglied der NATO werden, frage ich mich, gegen wen unsere Mitgliedschaft gerichtet wäre? Vielleicht gegen unseren großen Nachbarn China, einem Land von anderthalb Milliarden Einwohnern? Soll dieses Land unseren Beitritt zur NATO als Feindschaft gegen sich auffassen? Logischerweise würden sich die Chinesen fragen, ob sich Rußland für einen Konflikt mit ihnen vorbereitet. China ist ein bedeutsames Land, mit dem wir gut zusammmenwirken, und das wir nicht provozieren möchten.

Warum wollen Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO?

BABURIN: Ich sehe und begreife die Gründe, aus welchen osteuropäische Länder in die NATO wollen. Es sind besonders die der Polen und Tschechen, die die territorialen Ansprüche des vereinten Deutschland befürchten. Als NATO-Mitglieder möchten sie nicht nur Verteidigungsgarantien, sondern auch Garantien für ihre Grenzen in der Hand haben. In den Gesprächen mit osteuropäischen Politikern spürt man dazu eine eigenartige Psychose, Spannung und Ungeduld. Wie im Fieber sprechen sie zu mir: "Sie verstehen es nicht, alle um uns herum treten in die NATO ein, warum sollten wir es nicht tun?" Ich deute das als ein posttraumatisches psychologisches Phänomen. Vor einigen Tagen bin ich aus Bulgarien zurückgekehrt, und die dortigen Politiker haben mir offen gesagt: "Wie sollten wir nicht in die NATO eintreten, wenn es alle tun? Auch wenn wir es nicht wünschten, müßten wir es, weil alle unserer Nachbarn in der NATO sind, wie können wir dann abseits bleiben?"

Es ist aber offenbar so, daß weder die NATO noch die osteuropäischen Länder von der Osterweiterung dieses militärischen Bündnisses Abstand nehmen werden…

BABURIN: Wenn Rußland fest entschieden, und nicht nur mit Worten, den Europäern verkündet und sie davon überzeugt, daß solches Verhalten von uns bestimmte Gegenantworten verlangt – zum Beispiel die Wiederaufnahme der Produktion einiger Waffentypen, das Infragestellen einiger Verträge über die Reduzierung der nuklearen Bewaffnung, wie auch die Überprüfung und Einführung einiger, und die Wiedereinführung bereits verworfener Elemente unserer Militärdoktrin –, dann wird wahrscheinlich der Westen doch zum Nachdenken bewogen. Und wenn wir schon bei der Militärdoktrin sind: in ihr gilt noch immer die Bestimmung, wonach Rußland das Recht des nuklearen Erstschlags für sich behält beziehungsweise das Prinzip der Doktrin nicht aufgehoben worden ist, wodurch Rußland das Recht zukommt, den nuklearen Erstschlag auszuführen. Rußland hat also nicht nur das Recht zu einer Antwort, es hat auch das Recht zur Initiative, sollte es sich bedroht fühlen. Das was die große UdSSR vermochte, dafür hat auch Rußland die Kraft, glauben Sie es mir! Alle sollten daran denken, auch die führenden Köpfe der NATO. Außerdem, wie Sie wissen, kommt die Integration Rußlands und Weißrußlands voran; über die künftige Vereinigung unserer Länder sollte sich der Westen auch Gedanken machen. Unsere eventuelle Vereinigung wird ein bedeutendes Ereignis sein. Durch diesen Faktor wird die NATO gezwungen, über die Aufnahme neuer Mitglieder nachzudenken. Rußland soll über ähnliche Integrationsprozesse mit den Ländern der ehemaligen UdSSR nachdenken und, als Antwort auf die NATO-Erweiterung, ein wirksames System der kollektiven Sicherheit auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR aufstellen.

Auch einige Länder der ehemaligen UdSSR haben sich zum Ziel gesetzt, als Mitglieder der NATO aufgenommen zu werden…

BABURIN: Das kommt nicht in Betracht. Wir werden auch im Europarat die Unterstützung dafür verlangen, daß die Ukraine den Status eines blockfreien Landes behält, das aus eigenem Willen den Besitz der Nuklearwaffen abweist.

Wie werden sich, aus Ihrer Sicht, die russisch-europäischen Beziehungen nach dem Beitritt neuer Mitglieder zur NATO entwickeln?

BABURIN: Rußland wird unausweichlich seine Beziehungen zu den zur NATO beitretenden Staaten überprüfen müssen und alle Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Abwehrkraft, besonders an den Grenzen zu diesen Ländern, tätigen. Es wird uns oft genug gesagt, Rußland habe keine Grenzen zu diesen Ländern, wobei vergessen wird, daß die Russische Föderation im Bezirk Kaliningrad an Polen grenzt. Wir werden unsere Grenzen schützen müssen, und die NATO-Erweiterung wird uns, wie auch diese Länder, viel kosten. All dies wird zu Lasten unserer und ihrer Steuerzahler gehen. Rußland wird vom Schutz seiner Grenzen, in jeder Region und jedes Bürgers, nicht zurückscheuen.

Trifft Rußland irgendwelche Maßnahmen gegen die NATO-Osterweiterung?

BABURIN: Wir laden alle linken Kräfte Europas ein, sich der NATO-Osterweiterung zu widersetzen. Wir haben bereits die Unterstützung der linken Repräsentanten im Europarat erworben, wo wir gemeinsam und einvernehmlich wirken werden. Außerdem werden wir uns um eine möglichst gute Zusammenarbeit mit den blockfreien Staaten bemühen. Die NATO ist zu einer Selbstzweckorganisation geworden. Es stellt sich die Frage, ob die NATO Europas wegen, oder Europa der NATO wegen besteht. Hätten es die europäischen Regierungschefs so gewollt, wäre die NATO eine Woche nach dem Ableben des Warschauer Paktes beziehungsweise der UdSSR nicht mehr existent. Unter den heutigen Bedingungen sehe ich keinen objektiven Grund für ihr Weiterbestehen und für ihre Erweiterung. Ich hoffe, daß in einigen Jahren das, worüber wir jetzt reden, nur für Historiker und politische Chronisten von Interesse sein wird.

Können Sie uns einiges über konkrete Schritte sagen, die Rußland nach dem Beitritt neuer Mitgliederstaaten zur NATO unternehmen wird?

BABURIN: Rußland wird sich solchen Ereignissen entsprechend vorbereiten, darf aber seine Karten nicht offenlegen. Seien Sie sicher, daß Rußland die NATO-Erweiterung nicht unvorbereitet abwarten wird.

 

Sergej Nikolajewitsch Baburin, Vizepräsident der russischen Duma, ist Vorsitzender des Russischen Volksbundes, einer der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation nahestehenden Vereinigung und war Dekan der Fakultät der Rechtswissenschaften in der südsibirischen Millionenstadt Omsk. Baburin wird vielfach als "links-nationalistischer Politiker" bezeichnet und gilt als einer der lautstärksten Gegner der NATO-Osterweiterung. Ende Januar 1997 gründete sich unter seiner Führung die parlamentarische Gruppe "antiNATO", der bisher 110 Parlamentarier, hauptsächlich Vertreter der extremen Linken und Rechten, beigetreten sind. Das von Vlado Vurusic für die kroatische Zeitschrift Globus geführte Interview wurde von Hrvoje Lorcowic übersetzt.


 
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