© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/97  11. April 1997

 
 
Modell Uruguay
Lockerungsübungen von Karl Heinzen

Die "World Development Indicators", eine alljährlich publizierte Datensammlung der Weltbank, sprechen in ihrer jüngsten Ausgabe eine optimistische Sprache: Seit 1970 hat sich die Weltbevölkerung, ohne daß es jemandem persönlich unangenehm aufgefallen wäre, verdoppelt. In den nächsten 35 Jahren dürfte die Zahl der globalen Mitbürger um weitere 2,5 Milliarden zunehmen. Mehr Menschen – das heißt zunächst mehr Humanität. Mehr Menschen – das heißt ferner expandierende Märkte, und das bei weitem nicht nur in der Konsumgüterbranche. Allerdings entwickeln sich diese Märkte mit Zeitverzug, so daß in der kurzen Frist mit weiteren Wanderungsbewegungen aus unverändert armen Ländern in unverändert reiche Länder zu rechnen ist. Es macht also Sinn, daß die wohlhabenden Nationen darüber nachdenken, wie sie ihre Attraktivität herabsetzen können. Deutschland ist hier außerordentlich erfolgreich. Nicht nur, daß man, wie die jüngsten Anwürfe aus der Türkei unterstreichen, auf ein konstant schlechtes Image setzen darf, auch die ökonomischen Daten und Perspektiven dürften unterdessen niemanden mehr faszinieren, der sich eine neue Zukunft aufbauen möchte. Erst jetzt zeichnet sich ab, an welchem Modell sich Deutschland in der Ära Kohl orientiert haben könnte: nicht mehr am einst wohlfahrtsstaatlichen Schweden, das die sozialdemokratischen Vorväter favorisierten, sondern an jenem Uruguay, das ohne großes Aufsehen von der Prosperität in lang anhaltende Depression fiel. "Wer will noch nach Uruguay?" heißt es heute, und "wer wird morgen noch nach Deutschland wollen?" darf man bereits getrost hinzufügen. Der Platz 12 in der (um Kaufkraft-Verzerrungen bereinigten) Weltbank-Rangliste der Pro-Kopf-Einkommen dokumentiert, daß Deutschland auch wirtschaftlich zu einem gesunden Mittelmaß gefunden hat. Diese Position gilt es auszubauen.

Der wirtschaftliche Niedergang ist dabei bloß objektiv. Subjektiv stellt er sich als Bereicherung dar – und ist damit kein Krisensymptom der Marktwirtschaft: Freizeit läßt sich mit Geld nicht aufwiegen. Technologie ist ethisch erst unbedenklich, wenn sie veraltet ist. Deindustrialisierung ist besser als Umweltverschmutzung. Leistung darf sich nicht lohnen, sonst wäre sie nicht gemeinnützig. Diese Einstellungsmuster mit der demographischen Entwicklung zusammen genommen lassen vermuten, daß nur noch drei Qualifikationen Zukunftschancen haben: der Vermögensverwalter, der Umverteilungsbeamte und der Lebenskünstler. Nachdenklich stimmt hingegen die Mitteilung der Weltbank, daß so viele Entwicklungsländer, allen voran Lesotho und Kroatien, hohe und höchste Steuerquoten vorzeigen können. Bislang galt dies als Ausweis von Industriestaaten. Auch dieser deutsche Nimbus, einer der letzten, ist damit gebrochen.


 
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