© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/97  04. April 1997

 
 
Wie Groschenromane in der DDR den Mauerbau rechtfertigten
Wall gegen die Verderbnis
von Thorsten Hinz

Christa Wolfs 1963 erschienener Roman "Der geteilte Himmel" kann bis heute als frühe und subtile Affirmation des Mauerbaus literaturhistorisches Interesse beanspruchen. Rita, die Hauptfigur, verübt nach dem 13. August 1961 einen Selbstmordversuch, weil sie nun endgültig von ihrem in West-Berlin lebenden Freund Manfred getrennt ist. Ihr Gesundungsprozeß schreitet parallel zur Einsicht voran, daß die Mauer nur nachvollzieht, daß der Himmel, "dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, Liebe und Trauer", schon lange geteilt ist. Im Osten lockt die schwierige, lohnende Aufgabe, eine neue Gesellschaft aufzubauen; im Westen nur kleinbürgerliches Spießerleben.

Die Autorin variierte Stereotype, die in den DDR-Groschenheften jener Jahre gang und gäbe waren. Sie erschienen in den Reihen "Das neue Abenteuer" aus dem Jugendverlag Neues Leben, in der "Erzählerreihe", die dem Ministerium für Nationale Verteidigung zugeordnet war und in der "Kleinen Erzählerreihe" des DDR-Innenministeriums. Die Titel lauteten "Riskante Bekanntschaften", "Lebend begraben", "Täter oder Opfer?". Leicht zu lesen, sollten sie dem Publikum den Mauerbau plausibel machen. Der "Westen" war das Fremde und Entfremdete, das seine Sirenengesänge ausstieß, um DDR-Bürger ins Verderben zu reißen.

Westfrauen tragen hochhackige rote Schuhe, enganliegende Hosen und Pullover oder aber leichte Nylonkleider (die es in der DDR noch nicht gab), was sie der Gefahr von Unterleibsentzündungen aussetzt. Sie sind permanent überspannt; ihr Lieblingswort lautet "bezaubernd". Noch zur Mittagszeit laufen sie im halboffenen Morgenrock herum, in der Hand ein gefülltes Whiskyglas. Sie tragen schillernde Namen wie Rita Sugalla, Lilly Grabert oder Viktoria ("Vicky") Bachmann. Manche stammen aus der DDR, wo sie einen schlechten Leumund hatten. Sugallas Arbeitsscheu war stadtbekannt; sie wurde zweimal geschieden. Victoria hieß schon als Schülerin "Mannequin". Die allgemeine Zügellosigkeit fällt einer DDR-Übersiedlerin sofort ins Auge: "Das schwarzhaarige Geschöpf da am Rinnstein war schon mehr als sündhaft gekleidet." Und als "die Dirne hüftendrehend mit einem Mann" verschwand, denkt sie schaudernd: "So einfach ist das also. Da konnte ein Mann, wenn ihm der Sinn danach stand …" – Die demonstrative Abscheu kann die Lüsternheit des Schreibers nicht verbergen. Die sozialistische Moral aber wehrt außer westlicher Verführung auch die eigenen Triebe ab. Wo sie vergessen wird, drohen Sünde und Existenzvernichtung.

Der Medizinstudent Ralf nimmt am 12. August 1961 die Einladung zu einer Party nach Berlin-Zehlendorf an. Dort trifft er seine ehemalige Mitschülerin Vicky. Sie verspricht ihm eine Nacht voller Zärtlichkeit und ein Studiensemester an der Sorbonne. Ralf mißt der Tatsache, daß Vicky während ihres Beischlafs ihr Armband nicht ablegt, keine Bedeutung bei. Am nächsten Tag ist nicht nur der S-Bahn-Verkehr wegen des begonnenen Mauerbaus unterbrochen. Es stellt sich heraus, daß sich im Armband ein Mikrofon befand. Es folgt ein Erpressungsversuch. Ralf will in den Ostsektor fliehen, doch die West-Berliner Häscher stoßen ihn auf dem Bahnhof Westkreuz vor den Zug. Währenddessen versorgt seine Mutter die Angehörigen der Kampfgruppen, die die Sperranlagen an der Sektorengrenze installieren. Für den Sohn kommt der Mauerbau zwar zu spät, seine Kommilitonen aber sind jetzt in Sicherheit!

Die DDR-Frauen heißen madonnenhaft-keusch Maria Alfert, hausfraulich-bieder Anni Kersten oder proletarisch-einfach Erna Linke. Bei Elfriede Marchand wird der französisch klingende Familienname durch Elfriedes Mütterlichkeit und durch ihr Amt als Gewerkschaftsvertrauensfrau mehr als ausgeglichen. Auch sie sind Zielscheibe westlicher An- und Abwerbeversuche. Eine auch noch so geringe Distanz zur sozialistischen Gesellschaft macht die Betroffenen wehrlos.

Maria Alfert ist eine junge, fleißige Frau, die bis zuletzt ihre kranke Mutter gepflegt hat und darüber menschenscheu geworden ist. Als sie auf eine Heiratsanzeige reagiert, gerät sie prompt an einen charmanten West-Berliner, der natürlich ein Geheimdienstmann ist. Elfriedes Mahnungen überhört sie. Ihr angeblicher Freund versucht die Produktionszahlen ihres Betriebes herauszufinden, was ihm durch Marias Unachtsamkeit gelingt. Jetzt ist sie erpreßbar geworden. Hilflos zappelt sie im Netz "Riskanter Bekanntschaften". Verzweifelt nimmt sie eine Überdosis Tabletten. Jetzt tritt der sozialistische Staat in Aktion. Elfriede, die Gewerkschafterin, teilt ihren Verdacht dem Betriebsdirektor mit, der die Staatssicherheit einschaltet. Maria wird noch rechtzeitig gefunden und gerettet, der Spion festgenommen. Volkspolizisten und Stasi-Mitarbeiter sind ergraute Genossen mit zerfurchter Stirn und gütigen Augen. Sie sind nicht bloß Ermittlungsbeamte, sondern auch Beichtväter, Eheberater, Kummerkästen. Dank ihrer ist auch in der Millionenstadt Berlin – wenigstens im Ostteil – niemand allein. Hauptwachtmeister Thomas Kremmin fällt bei seinem nächtlichen Rundgang auf, daß bei der alten Frau Baumann noch Licht brennt. Er macht sich Sorgen: "Sollte er anklopfen? Wenn sie nun krank war und Hilfe brauchte?" Die Sorgen waren berechtigt: Frau Baumann hat sich aus Angst vor den Erpressungen eines westdeutschen Betrügers, der sich als Volkspolizist ausgab, erhängt.

Der autoritäre Charakter der Frau Baumann wurde noch in vorsozialistischer Zeit geprägt. Bürger, die mit beiden Beinen im Sozialismus stehen, aber lassen sich nicht täuschen. Der aufmerksamen Erna Linke jedenfalls ist sofort klar: "Das ungesunde blasse Gesicht paßte so gar nicht zu einem Volkspolizisten, und nervös war der. Das Verhalten des Mannes und sein Aussehen mahnten zur Vorsicht."

Das Verbrechen an Frau Baumann geschah vor dem Mauerbau. Der 13. August 1961 sollte dem ein für allemal ein Ende machen. "Er kam viel zu spät, dieser Tag, sonst wäre jenes und unzähliges andere nicht möglich gewesen, deren Folgen noch heute spürbar sind."


 
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